Die Lebens- und Versorgungssituation von Familien mit chronisch kranken und behinderten Kindern in Deutschland

1. Hintrgrund
Die familienorientierte Selbsthilfe steht bereits seit Jahren im Fokus der Arbeit von Kindernetzwerk e.V.. Meist geht es dabei primär um die Betroffenen selbst - also um die Bedürfnisse des Kindes oder des jungen Menschen an sich. Die Eltern, die anderen Familienmitglieder, die näheren Angehörigen oder die Geschwister bleiben allerdings oft mit ihren Bedürfnissen außen vor und erhalten häufig nicht die Unterstützung, die auch sie im Alltag benötigen würden.

Genaue Daten zur Lebens- und Versorgungssituation von betroffenen Eltern gibt es allerdings kaum. Die letzte vom Kindernetzwerk durchgeführte bundesweite Erhebung "Familien mit chronisch kranken und pflegebedürftigen Kindern" liegt bereits 10 Jahre zurück. Dort wurde unter einer repräsentativen Auswahl von Mitgliedern der Mitgliedsorganisationen des Kindernetzwerks e.V. nicht nur untersucht, welche Bedürfnisse die Kinder selbst, sondern welche Bedürfnisse auch die Eltern oder weitere Angehörige wie die Geschwister in Bezug auf die Versorgung, die Pflege, die Information, die Finanzierung, das emotionale Befinden, Partnerbeziehungen und vielem mehr haben. Natürlich ist dabei auch die Rolle und Bedeutung der Selbsthilfe in diesem Kontext in maßgeblicher Weise abgefragt worden.

Seitdem die Daten in den Jahren 2004 und 2005 erhoben und 2006 erstmals veröffentlicht wurden, sind jedoch eine Vielzahl von für die Familien mit chronisch kranken und behinderten Kindern relevanten sozial- und gesundheitspolitischen Veränderungen eingetreten, die auch die gesundheitliche Versorgung und soziale Unterstützung der Familien betreffen. Den mittelfristigen Themenschwerpunkt der familienorientierten Selbsthilfe des AOK-Bundesverbandes hat das Kindernetzwerk daher zum Anlass genommen, diese unter dem Gesichtspunkt der Eltern (bzw. Pflege- oder Adoptiveltern oder anderer fürsorgende Familienmitglieder) bisher einmalige Versorgungsstudie neu aufzulegen und dabei zugleich auch neue und zeitgemäße Fragestellungen mit einzubeziehen.

Dazu haben das Kindernetzwerk e.V. und das Institut für Medizinische Soziologie im Juli 2012 ein vom AOK Bundesverband gefördertes Projekt mit einer Laufzeit bis Dezember 2014 gestartet.

2. Methodik
Fragebogenentwicklung: Zu erhebende Daten und Dimensionen

Analog zur Kindernetzwerk-Umfrage in 2004 ist auch die derzeitige Studie als standardisierte Erhebung konzipiert und somit fragebogenbasiert. Im Unterschied zur 2004-Erhebung wurde die hier vorliegende Untersuchung in Form einer Internet-Umfrage umgesetzt, d.h. die mitwirkenden Eltern haben einen Online-Fragebogen ausgefüllt. Dieser wurde in einer gemeinschaftlichen Entwicklung durch das IMS und Mitgliedern des Arbeitskreises "pflegerische und psychosoziale Versorgung" im Kindernetzwerk e. V. sowie Fachleuten aus der pädiatrischen Pflege und Frühförderung so konzipiert, dass sowohl eine Kohortenvergleichsstudie (Vergleich der 2004-Erhebung mit der jetzt neuen Erhebung) ermöglicht wird als auch Dimensionen und Variablen erfasst werden, die sich für die familienorientierte Selbsthilfe seitdem erst ergeben haben und damit aus heutiger Sich neu und relevant sind. In diesem Zusammenhang ist die Abbildung der sozio-ökonomischen, der psychosozialen und der gesundheitlichen Dimension der Familien von besonderer Bedeutung. Der Fokus erweitert sich hier von den Kindern mit besonderen Bedürfnissen/Bedarfen auf das Familiensystem mit besonderen Bedürfnissen/Bedarfen, mindestens jedoch auf die Lebenssituation der Eltern. Der Fragebogen umfasst die folgenden Dimensionen:

  • Angaben zu den Eltern und dem betroffenen Kind/den Kindern (Verwandtschaftsverhältnisse, Alter des Kindes)
  • Pflege- und Betreuungsbedarf (Diagnosen/Problembeschreibungen, Pflegestufe, Schwerbehindertenausweis, Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens, (sozial-)pflegerische Unterstützung und Versorgung etc.)
  • Information und Beratung über die Erkrankung/Behinderung des betroffenen Kindes (Wer hat informiert/beraten? Wer war besonders hilfreich?)
  • Versorgung und Unterstützung (Kenntnis der Ansprüche; Nutzung von Hilfsangeboten; Zufriedenheit mit der Versorgung)
  • Geschwisterkinder (Falls weitere Kinder: Alter der weiteren Kinder; wie kommen die Geschwister mit der Situation zurecht?)
  • Gesundheit und Lebensqualität der Eltern (Lebensqualitätsfragebogen SF-12; Familien-Belastungs-Fragebogen (FaBel, modifizierte gekürzte Version); Lebensqualität WHOQOL, Partnerschaftsprobleme)
  • Soziodemografische Angaben der Eltern (Alter, Geschlecht, Ausbildung, Beruf, Erwerbstätigkeit, Haushaltsnettoeinkommen, Region (ländlich, kleinstädtisch, großstädtisch), Bundesland
  • Sozioökonomische Situation und sozioökonomische Konsequenzen, die sich aus den besonderen Bedarfen ergeben
Pre-Test:

Der Fragebogen sowie die Erhebungsmethode wurden im April bis Mai 2013 mittels eines Pre-Tests, an dem sich 36 Eltern online beteiligt haben, erfolgreich geprüft und nur um spezifische Angaben zum Schwerbehindertenausweis - sofern vorhanden - erweitert. Die Daten aus dem Pre-Test konnten somit vollständig integriert werden.

Rekrutierung, Datenerhebung, Datenanalyse und Berichtslegung:

Die Mitglieder des Kindernetzwerks und die Mitglieder der dem Kindernetzwerk angeschlossenen Elterninitiativen und Selbsthilfegruppen und -organisationen sind zu über 99% online. Zudem ist die digitale Kommunikation die primäre und bevorzugte Methode der Kindernetzwerk-Mitglieder und Eltern-Initiativen. Aus diesem Grunde erfolgten Rekrutierung und Datenerhebung in einem zweistufigen Verfahren, internetbasiert.
  • In der ersten Stufe wurden Verbände der Eltern-, Kinder- und Familienselbsthilfe - die sowohl Mitglieder wie auch Nicht-Mitglieder des Kindernetzwerkes e.V. sein konnten - identifiziert, kontaktiert und um Kooperation gebeten. Den kooperierenden Verbänden wurden vom Kindernetzwerk alle benötigten Informationen zugestellt.
  • Die Geschäftsstellen der Verbände, ggf. die Vorstände oder Sprecher/innen der jeweiligen Vereine leiteten die Informationen zur Studie und den Zugang zur Online-Umfrage an ihre Mitglieder weiter. Alle Beteiligten wurden zudem gebeten, die Studie in ihren Mitgliedszeitschriften, auf ihren websites, in ihren social media (z.B. Facebook) bzw. direkt über ihre E-Mail-Verteiler zu bewerben.
Prozessierung der Daten und Datenschutz:
  • Die Eltern beteiligten sich an der Umfrage, indem sie über den ihnen übermittelten weblink Zugriff auf die Online-Umfrage erhalten und die Umfrage am PC beantworten.
  • Die Befragung ist anonym. Das Institut für Medizinische Soziologie verfügt selbst über keinerlei E-Mail-Adressen oder andere Kontaktdaten noch wird es diese erheben oder erhalten.
  • Weder das Kindernetzwerk e.V. noch eine ihrer Mitgliedsorganisationen, Initiativen und/oder Selbsthilfegruppen werden die Rohdaten erhalten. Die Daten werden im IMS anonymisiert und zugriffsgesichert gespeichert und in keinem Fall an Dritte weitergegeben.
  • Bis auf wenige Ausnahmen können die meisten soziodemografischen Angaben übersprungen werden, bzw. auf Kästchen mit "keine Angabe" geklickt werden. Diese Möglichkeit wird allerdings die Aussagekraft der Ergebnisse beeinträchtigen.
    Alle Datenübertragungen zum Server und vom Server zum IMS erfolgen verschlüsselt über eine SSL-Verbindung.
  • Alle Mitarbeiter des IMS, die mit den Daten in Berührung kommen, sind und werden nach
    1. § 5 des Bundesdatenschutzgesetzes - BDSG - vom 20.12.1990 Stand vom 14.8.2009 I 2814;
    2. dem Fernmeldegeheimnis gemäß § 88 Telekommunikationsgesetz (TKG) sowie
    3. auf die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen schriftlich verpflichtet. Projektleiter und Mitarbeiter sind zur absoluten Verschwiegenheit und größter Vertraulichkeit verpflichtet. Niemals werden irgendwelche Bemühungen angestellt, eine bestimmte Familie aus der Datenstruktur heraus zu identifizieren.
  • Kleinräumige Daten (Postleitzahlen) werden in übergeordnete Regionen (z.B. Bundesländer) zusammengefasst.
  • Berufe werden zusammenfassend klassifiziert, z.B. Klassifikation der Berufe 2010 der Bundesagentur für Arbeit (KldB 2010) oder der International Standard Classification of Occupations (ISCO).
  • Alle Ergebnisse werden nur aggregiert bzw. in zusammenfassenden Untergruppen publiziert, sodass niemals Rückschlüsse auf einzelne Beteiligte gezogen werden können.
Kontrollgruppe:

Parallel zur Kindernetzwerk-Erhebung wurde im November und Dezember 2013 eine bundesweite repräsentative Kontrollgruppe (KG) durch das Sozialforschungsinstitut USUMA in Berlin erhoben. Die KG besteht aus Eltern von Kindern ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen. Es beteiligten sich 439 von 845 telefonisch rekrutierten Eltern an einer analog der Kindernetzwerk-Umfrage entsprechenden Online-Erhebung (Rücklauf: 52%). Die Kontrollgruppen-Befragung war gegenüber der Befragung der Familien mit besonderen Bedarfen modifiziert und etwas kürzer, da hier keine pflegebedarfsspezifischen Informationen erfasst wurden. Der inhaltliche Schwerpunkt lag hier auf dem Thema "Vereinbarkeit von Erwerb und Familie". In beiden Erhebungen identisch sind die Fragen zur Soziodemografie, Sozio-Ökonomie, Gesundheit und Lebensqualität (s.o. "Fragebogenentwicklung").

Datenanalyse:

Datenanalysen wurden und werden mit SPSST durgeführt. Neben deskriptiven Auswertungen wie Häufigkeiten und Kreuztabellen, werden Untergruppenvergleiche mit Chi-Quadrat-Tests, Mann-Whitney-U-Tests sowie bei gegebenem Datenniveau T-Test durchgeführt. Multivariate Analysen basieren auf logistischen und linearen multiplen Regressionen. In die Vergleichsanalysen gehen ein die Kindernetzwerkumfrage von 2004 mit 499 beteiligten Eltern, die Kontrollgruppen-Erhebung mit 439 Eltern sowie die aktuelle Umfrage mit 1.570 beteiligten Eltern.

Berichtslegung/Publikationen:
  • Ein erster zusammenfassender Ergebnisbericht wird in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Kinder Spezial erscheinen
  • Bis Ende Juni erstellt das IMS einen umfassenden deskriptiven Ergebnisbericht, der im Herbst durch den AOK-Bundesverband veröffentlicht werden wird
  • Vertiefende Fragestellungen (z.B. zielgruppenspezifische Vergleiche, multifaktorielle Analysen etc.) werden in Form von wissenschaftlichen Publikationen und ggf. auch anderen praxisorientierten Veröffentlichungen aufbereitet werden.
3. Verwertung der Ergebnisse
Die Ergebnisse sind neben den betroffenen Familien selbst insbesondere für Kranken- und Pflegeversicherungen von hoher Relevanz, da sich Belastungen und Entlastungen der betroffenen Familien unmittelbar sowohl auf der Einnahmen- (Versicherungsbeiträge) wie Ausgabenseite (Behandlungs- und Pflegeleistungen) niederschlagen. In ähnlicher Weise sind auch Rentenversicherungsträger durch geringere Versichertenbeiträge betroffen und dadurch gegenwärtig wie zukünftig auch die öffentliche Hand durch Transferleistungen. Förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen für die Familien und für die Sozialversicherungen hängen letztlich von den Bedingungen des Arbeitsmarktes und der arbeitsmarktpolitischen Steuerung ab, womit sich der Kreis zwischen Arbeitsmarkt, Familien und sozialen Sicherungssystemen wieder schließt. Die Studie kann empirisch gestützte Bedarfe, Chancen und Möglichkeiten der Integration und Inklusion von Familien mit besonderen Bedarfen weit über die familienorientierte Selbsthilfe hinaus aufzeigen und Entscheidungsträgern in Wirtschaft, Arbeits-, Sozial- und Gesundheitspolitik Handlungsmöglichkeiten und -optionen aufzeigen.
Die Ergebnisse sollen Repräsentanten der Krankenversicherungen und gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern vorgelegt werden sowie in die Pressearbeit des Kindernetzwerkes und des AOK Bundesverbandes münden. Das IMS stellt der Organisation Kindernetzwerk e.V. und dem AOK Bundesverband die Projektergebnisse in digitaler Form zur möglichen eigenen Weiterbearbeitung, z.B. für die Öffentlichkeitsarbeit in hauseigenen Medien, zur Verfügung. Des Weiteren sind Publikationen in Fachzeitschriften geplant sowie Präsentationen auf wissenschaftlichen Fachtagungen sowie Ärztekongressen und Selbsthilfetagungen. Der AOK Bundesverband wird in allen Publikationen und Vorträgen als alleiniger Projektförderer explizit genannt.

4. Ethische/rechtliche Aspekte
Die Beteiligung an der Studie ist absolut freiwillig, und eine Nicht-Beteiligung hat keinerlei Auswirkungen auf den Mitgliedschaftsstatus in einem der kooperierenden Elternverbände oder von Kindernetzwerk e.V. Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind geschäftsfähige Volljährige im Rahmen einer anonymen Beobachtungsstudie. Ein Ethikvotum ist für diese Beobachtungsstudie nicht erforderlich.