Raum 'Ärztin werden' im Medizinhistorischen Museum
Aktuelle Forschungen aus Geschichte, Ethik und Museologie

Schnittstellen

Vortragsprogramm zur Geschichte, Ethik und Museologie der Medizin

April 2024 – Juli 2024

An Schnittstellen findet der Austausch zwischen Informationssystemen statt. Sie ermöglichen Kommunikation und führen unterschiedliche Perspektiven zusammen. Im Sinne von Einschnitten verfolgen wir die materiellen und immateriellen Spuren und Effekte medizinischen Handelns in der Gesellschaft. Die Vortragsreihe verbindet aktuelle ethische und wissenschaftshistorische Fragestellungen mit museologischen Diskursen von Bewahrung und Vermittlung. Sie richtet sich sowohl an Professionelle aus den Wissenschaften und Gesundheitsberufen als auch an eine breitere Öffentlichkeit.

Mittwochs 18.00 Uhr bis 19.30 Uhr im Hörsaal des Fritz-Schumacher-Hauses (N30).

Vor den Veranstaltungen ist der kostenlose Besuch des Museums möglich (ab 17 Uhr).

Programm-Flyer

  • Organspendeausweis
    Die Organspende jenseits von Operationssälen:
    Welche Zugriffe auf den Körper sind gesellschaftlich legitim?

    2024 nimmt das bereits seit Längerem angekündigte Organspende-Register seinen Betrieb auf. Jede Person, die dazu fähig ist, soll dort ihre Entscheidung zu Organ- und Gewebespende festhalten können. Das Register hat eine lange gesellschaftspolitische Vorgeschichte, die sich immer wieder an der Frage entfacht, ob auch in Deutschland eine Regelung eingeführt werden sollte, die alle zur Organspender*innen macht. Die vorwiegend positive Rahmung des Transplantationsvorgangs als „Spende“ von Organen und Akt der Hilfeleistung wird dabei kontrovers mit dem Bedürfnis nach der Unversehrtheit des Körpers verhandelt und kumuliert häufig in der Frage nach der Legitimation des Zugriffs auf die Körper der anderen. Der Vortrag möchte ausgehend von empirischem Material zur Organspende einen Blick auf Geschichte(n) des Organspendeausweises werfen, mit dem die Frage nach der Möglichkeit der Organspende über die private, medizinische Entscheidung hinaus auch zu einer gesellschaftspolitischen Frage wird. Zudem soll gezeigt werden, dass die scheinbar unscheinbare kleine Karte eine wichtige Rolle dabei spielt, wie sich Organspende jenseits von Operationssälen und Intensivstationen als gesellschaftliche Praxis im Umgang mit dem Körper etabliert und wie die noch vergleichsweise junge Möglichkeit, Körperteile zu transplantieren auch jenseits medizinischer Expertise vorgestellt und kulturell eingebettet wird.

    Annerose Böhrer ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Der Fokus ihrer Forschung liegt auf Materialität, Metaphern und Praktiken, die sie bereits im Zusammenhang mit Organspende und sozialen Dynamiken der Pandemie analysiert hat. Sie experimentiert zudem an den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft, insbesondere im Bereich Illustration, Augmented Reality und Theater.

  • Sektionsbuch
    Sektionsbücher dokumentieren anatomische Praxis
    Welche Personen landeten auf den Sektionstischen der Anatomie?

    Der Vortrag soll die historische Entwicklung der Sozialstruktur und Herkunft von "Anatomieleichen" sowie deren Ablieferung an Universitäten aufzeigen. Anhand verschiedener Beispiele deutscher Universitäten ab dem 18. Jahrhundert, mit Fokus auf die Geschichte der Universität Erlangen, wird die Praxis, bestimmte stigmatisierte soziale Gruppen als Leichen zu nutzen, in ihrem Wandel hin zu einer freiwilligen Körperspende beschrieben. Es soll gezeigt werden, wie die Anatomie von politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst wurde. Dazu sollen die Perspektiven von Bürger:innen denjenigen der Mediziner:innen und Anatom:innen gegenübergestellt werden, um einen möglichst breiten, differenzierten Blick zu erhalten und diesen zu diskutieren.

    Tim Simon Goldmann studiert seit 2019 Humanmedizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und arbeitet seit Anfang 2020 in Kooperation zwischen den Instituten für Anatomie sowie Geschichte und Ethik der Medizin an der Inventarisierung und Erforschung der Anatomischen Sammlungsbestände und der Geschichte der Anatomie in Erlangen. Er arbeitet in der Arbeitsgruppe „Humanpräparate aus der Zeit des Nationalsozialismus an der Medizinischen Fakultät der FAU Erlangen-Nürnberg und dem Universitätsklinikum Erlangen“. Seitdem schreibt er auch an seiner Dissertation zum Thema „Geschichte und Provenienzen der Feten in der Erlanger Anatomischen Sammlung“.

  • Fotografie zweier Hände in schwarz-weiß
    Die Fabrikation der pathologischen Hand
    Zu welchem Zweck wurden Hände modelliert und visualisiert?

    Der Vortrag untersucht aus kulturhistorischer Sicht die Rolle von Handabgüssen, Hand-Moulagen und Fotografien in der Geschichte der Medizin und der Kriminalanthropologie. Ausgehend von dem Gipsabguss einer deutschen „Mörderhand“ aus dem Jahr 1943 soll gefragt werden, in welchem Umfeld jeweils Handabdrücke entstehen. Wie wurden solche Artefakte hergestellt, für welche Zwecke produziert? Wer hat sie wo aufbewahrt, überliefert? Verbunden mit den musealen Artefakten ist eine Visualisierungsgeschichte von Händen, mit der die physiognomische Deutung des Menschen seit dem 19. Jahrhundert interpretiert werden kann.

    Susanne Regener ist Kulturwissenschaftlerin und emeritierte Professorin. Sie lebt in Berlin und Kopenhagen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Kultur und Ästhetik von Amateurfotografien in Geschichte und Gegenwart, Visualisierungsstrategien von der/dem Anderen (Outsidern) in Wissenschaft sowie Darstellungen von Mustern des Verdachts und des Bösen.

  • Portrait Emil von Behring
    Ulrike Enke: Emil von Behring (1854-1917)
    Die Biografie zum Immunulogen, Unternehmer und Nobelpreisträger

    Emil von Behring (1854-1917) gehört zu den bekanntesten Marburger Wissenschaftlern. Als Erfinder von Impfstoffen gegen Diphtherie und Tetanus wurde er weltberühmt. Die zeitgenössische Presse feierte ihn als »Retter der Kinder und Soldaten«. 1901 erhielt er den ersten Nobelpreis für Medizin. Die neu erschienene Biographie zeichnet nicht nur Behrings Lebensweg als Wissenschaftler und Diphtherieforscher nach, sondern erzählt auch von seinen Netzwerken, seinen Beziehungen zu Ärzten und Kaufleuten in Hamburg und Bremen, seinen Begegnungen mit Schriftstellern und Politikern, von den Reisen nach Paris und seiner »Orient-Exkursion«. Behrings Alltagsleben als Bruder, als liebevoller Ehemann und fürsorglicher Familienvater erhält breiten Raum. Schließlich wird auch die lange tabuisierte schwere Erkrankung dargestellt und der Blick auf die Rezeption Behrings in der NS-Zeit gelenkt.

    Ulrike Enke, promovierte Literaturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin, forscht auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaftsgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. 2009 wurde sie im Rahmen eines an der Universität Marburg angesiedelten DFG-Projekts mit der Aufarbeitung des Behring-Nachlasses betraut. Sie publiziert zu Behring als Wissenschaftler und Unternehmensgründer sowie zu Fragen von Biographie und Nachlass. 2014 wurde sie mit der Behring-Medaille der Gemeinde Iława (Polen) ausgezeichnet.

  • Logo der kollegialen ethischen Fallberatung (KEF)
    Die Kollegiale ethische Fallberatung (KEF)
    Wie lassen sich ethische Probleme frühzeitig erkennen und lösen?

    Dieser Abend widmet sich einem vielerorts brennenden Problem. Es geht darum, wie sich ethische Probleme frühzeitig erkennen und niedrigschwellig lösen lassen, um letztlich daraus entwachsenden Konflikten vorzubeugen. Dazu stellt Prof. Dr. Michael Leupold gemeinsam mit Studierenden und Praktiker:innen aus dem Bereich Soziale Arbeit die Kollegiale Ethische Fallberatung (KEF) vor. Dabei handelt es sich um eine Variante kollegialer Beratung, die an der HAW speziell für die Anforderungen der Sozialen Arbeit entwickelt wurde und die die Beteiligten darin unterstützt mit ethischen Herausforderungen professionell umzugehen. Die Einführung in die Entwicklung und in das Wesen dieses Beratungsformates erfolgt im Rahmen eines Expert:innen-Gesprächs. Im Anschluss wird dessen Umsetzbarkeit in den verschiedenen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung gemeinsam mit allen Teilnehmenden diskutiert.

    Prof. Dr. Michael Leupold, Dipl. Sozialpädagoge (FH), M.A. Philosophie, Professor für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Gesundheit und Suchthilfe an der HAW HH, ca. 20 Jahre Berufserfahrung in der stationären und ambulanten Sozialpsychiatrie in Süddeutschland.

  • Handbuch Massage
    Die Massage war Vorläufer der Heilgymnastik
    Wie verlief die Professionsgeschichte der Physiotherapie?

    Die Massage gilt weltweit als eine der ältesten Heilbehandlungen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es zu einer rasanten Weiterentwicklung solcher mechanischer Behandlungsformen. Im Jahr 1827 gründete der Schwede Per Henrik Ling in Stockholm das Gymnastische Zentralinstitut. Auf Lings Arbeit baute sein Landsmann Gustav Zander auf, der auf eine apparategestützte Gymnastik setzte. Schnell breiteten sich die sogenannten Zander-Apparate in ganz Europa aus, sodass im Nachhinein auch von einer „Zander-Ära“ gesprochen wurde. Einen weiteren Entwicklungsschub erlebte die Heilgymnastik während und nach den Weltkriegen, als tausende Kriegsversehrte zurück nach Deutschland strömten, für die u.a. heilgymnastische Therapien verordnet wurden. Unterschiedlichste Berufsgruppen hatten sich bis dahin das Feld angeeignet: Masseure, medizinische Bademeister, Heilgymnasten und auch Krankengymnasten boten mechanische Heilbehandlungen an. Ab 1949 setzte dann in der Bundesrepublik ein stetiger Professionalisierungsprozess innerhalb des Berufsfeldes ein, der maßgeblich von unterschiedlichen Akteuren, politischen Kontexten und wirtschaftlichen Gegebenheiten geprägt war.

    Pierre Pfütsch studierte Geschichtswissenschaft und Germanistik an der Universität Mannheim, wo er 2016 zur Geschlechtergeschichte der Prävention promovierte. Seit 2015 ist Pierre Pfütsch wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart, außerdem Lehrbeauftragter an der Universität Mannheim und Redakteur der Zeitschrift „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Zeitgeschichte der Medizin, Pflegegeschichte und die Geschichte medizinischer Berufe.

Koordination: Dr. Henrik Eßler ( h.essler@uke.de ), Ralph Höger ( r.hoeger@uke.de )