Gegen das Vergessen

Rund 200 Kinder in Deutschland leiden an der seltenen Krankheit NCL (Neuronale Ceroid-Lipofuszinose), bei der sie Schritt für Schritt alle motorischen und geistigen Fähigkeiten verlieren. Die Kinderklinik des UKE hat sich auf die Erforschung, Diagnostik und Therapie spezialisiert und sucht mit Hochdruck nach Behandlungsmöglichkeiten.


Bis zu seinem vierten Lebensjahr ist Bela ein aktiver kleiner Junge, der die Gegend am liebsten im Laufschritt erkundet. Dass er spät sprechen lernt, schieben seine Eltern auf die vielen Mittelohrentzündungen. Als er auf Treppenimmer öfter ins Stolpern gerät, vermuten sie eine Sehschwäche und schaffen eine Brille an. Beim ersten epileptischen Anfall ahnen sie,dass mehr dahinter stecken könnte und gehen zum Neurologen. Im April 2013 folgt die niederschmetternde Diagnose: Ihr Sohn leidet an spätinfantiler Neuronaler Ceroid-Lipofuszinose (CLN2), einer unheilbaren Krankheit, bei der Kinder schrittweise ihr Augenlicht verlieren,die Fähigkeit zu sprechen, sich zu bewegen, zu schlucken und mit Krampfanfällen zu kämpfen haben. „Im ersten Moment waren wir wie gelähmt und wollten es nicht wahrhaben“, erinnert sich Belas Mutter. Die Familie wendet sich an die Kinderklinik des UKE und findet dort Hilfe in der NCL-Spezialsprechstunde.

„Zu wissen, dass ihre bislang normal entwickelten Kinder plötzlich und unaufhaltsam alles verlieren werden, was das Leben ausmacht, und keine Heilung möglich ist, können Familien kaum akzeptieren“, erklärt Dr. Angela Schulz, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Seit acht Jahren leitet sie an der Seite von Miriam Nickel und Prof. Dr. Alfried Kohlschütter die NCL-Spezialsprechstunde – ein einzigartiges Projekt, in dem rund 100 junge Patienten aus allen Teilen der Welt versorgt werden. „Im Rahmen der Sprechstunde bestimmen wir zunächst anhand umfassender Diagnostikmethoden die exakte Form der 13 verschiedenen NCL-Erkrankungen. Anschließend geht es darum, die Familien und ihre Kinder therapeutisch zu begleiten und zu beraten“, sagt die Kinderärztin. Dies geschieht in enger Kooperation mit der Kardiologie, der Augenklinik, der Neuroradiologie und Neurochirurgie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKE.

Über diese Rickham-Kapsel gelangt das Enzym tröpfenweise ins Gehirn
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Über diese Rickham-Kapsel gelangt das Enzym tröpfenweise ins Gehirn
Rickham-Kapsel - NCL

Rickham-Kapsel
Prof. Dr. Thomas Braulke und Dr. Angela Schulz verknüpfen Grundlagen- und klinische Forschung.

Prof. Dr. Thomas Braulke und Dr. Angela Schulz verknüpfen Grundlagen- und klinische Forschung.
MRT-Aufnahme des kindlichen Gehirns mit dreieinhalb Jahren: Die grauen Bereiche zeigen die Hirnsubstanz

MRT-Aufnahme des kindlichen Gehirns mit dreieinhalb Jahren: Die grauen Bereiche zeigen die Hirnsubstanz
Eineinhalb Jahre später: Die Hirnsubstanz hat deutlich abgenommen, die Ventrikel (weißer Bereich Mitte) sind vergrößert

Eineinhalb Jahre später: Die Hirnsubstanz hat deutlich abgenommen, die Ventrikel (weißer Bereich Mitte) sind vergrößert

Auf dem richtigen Weg

Um der tückischen Krankheit auf die Spur zukommen, laufen in Hamburg verschiedene Studien. Das wahrscheinlich hoffnungsvollste Projekt derzeit ist die Enzymersatztherapie zur Behandlung der CLN2-Form, an dem auch Bela teilnimmt. Um die Chance dieses einzigartigen Programms zu nutzen, reisen die Teilnehmer und ihre Familien aus der ganzen Welt an. Einige verlegen ihren Lebensmittelpunkt für die Dauer der Therapie sogar nach Hamburg.

Geleitet wird die internationale Phase-I/II-Studie von Dr. Schulz; zwölf der insgesamt 24 Patienten werden im UKE behandelt. Über eine Infusion erhalten sie im zweiwöchigen Rhythmus ein künstlich hergestelltes Enzym, das durch einen dünnen Schlauch direkt in die Hirnventrikel gegeben wird. Eine winzige Metallkapsel mit Gummimembran (Rickham-Kapsel), die unter der Kopfhaut sitzt, stellt sicher, dass sie nichts davon spüren. „Seit Beginn der Studie vor rund einem Jahr konnten wir keine schwerwiegenden Nebenwirkungen feststellen“, sagt Dr. Schulz und wertet das Ergebnis als ersten therapeutischen Hoffnungsschimmer. Die endgültige Auswertung erfolgt Ende des Jahres, wenn alle Daten vorliegen.

Rätsel gemeinsam entschlüsseln

Auch die anderen NCL-Formen stehen im Fokus der Wissenschaftler und Ärzte der Kinderklinik. Im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts „DEM CHILD“ (Dementiain Childhood), das Dr. Schulz und Prof. Dr. Thomas Braulke, Leiter des Arbeitsbereichs Molekularbiologie, in Hamburg koordinieren, wurde in den vergangenen Jahren ein internationales Patientenregister entwickelt.

Die Datenbank soll helfen, Krankheitsverläufe zu studieren, Mechanismen zu entschlüsseln und Behandlungsmöglichkeiten auszuloten. Dabei arbeiten klinische Forscher und Laborwissenschaftler eng zusammen. „Verlaufskontrollen und Blutproben, die wir in der Spezialsprechstunde dokumentieren und in die internationale Datenbank einfließen lassen, werden direkt von Prof. Braulkes Forschungsgruppe genutzt und molekularbiologisch untersucht“, erklärt Dr. Schulz. So gelang es bereits, potentielle Biomarker der CLN3-Krankheit zu identifizieren und Stoffwechselwege nachzuvollziehen. Darüber hinaus wurde mit dem Patientenregister eine umfangreiche Kontrollgruppe geschaffen, die ein sofortiges Handeln ermöglicht, sobald sich eine neue Therapieoption am Horizont abzeichnet.

Im kommendenJahr startet unter Leitung von Prof. Braulke das BMBF-geförderte Forschungskonsortium „NCL2TREAT “, das sich auf die Erforschung der häufigsten NCL-Form CLN3 konzentriert. Die Krankheit beginnt meist im Alter von vier bis sechs Jahren und macht sich zunächst durch Sehprobleme bemerkbar, die mit der Zeit zur völligen Erblindung der kleinen Patienten führen. Es folgen Demenz, epileptische Krampfanfälle, Verlust der Bewegungsfähigkeit und kardiale Probleme. Im Rahmen des BMBF-Projektssollen im Labor neue Therapieansätze entwickelt und in der Klinik in Zusammenarbeit mit Dr. Schulz durch Sammlung von Patientendaten auswertbar gemacht werden. „Wenn es uns gelingt, die Krankheitsmechanismen zuverstehen, haben wir hoffentlich die Chance, sie gezielt medikamentös anzugreifen und auszuhebeln“, erklärt Dr. Schulz.

Belas Eltern haben seit Beginn der Enzymersatztherapie im Januar dieses Jahres wieder Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Krankheit langsamer voranschreitet, dass Bela weiter Legotürme bauen kann und mit der Gehhilfe sogar wieder laufen lernt. Erste Schritte sind ihm bereits gelungen. Diesen Weg will die Familie gemeinsam mit dem UKE weitergehen.

  • Was ist NCL?
  • Was ist NCL?

    Neuronale Ceroid-Lipofuszinosen (NCL) zählen zur Gruppe der lysosomalen Speichererkrankungen und sind Hauptauslöser für eine Demenz im Kindesalter. Die Stoffwechselstörungen führen dazu, dass Abfälle des Zellstoffwechsels nicht abgebaut werden können und gesunde Nervenzellen sterben. Ausgelöst wird die Krankheit durch erblich bedingte Genmutationen.

    13 NCL-Gene wurden bisher entdeckt. Alle Formen weisen eine Kombination aus Demenz, Verlust der Sehfähigkeit, epileptischen Krampfanfällen und motorischem Abbau auf. Eine Heilung ist derzeit nicht möglich.

    Der Verein „Freunde der Kinderklinik des UKE-Eppendorf“ unterstützt seit mehr als 20 Jahren an NCL erkrankte Kinder und deren Familien sowie die Kinderklinik.

Text: Nicole Sénégas-Wulf
Fotos: Felizitas Tomrlin