„Mein Blick geht immer nach vorn“

Beim Pokalspiel vergangenen Oktober verletzt sich HSV-Vize-Kapitän Tim Leiboldso schwer, dass er vom Platz getragen werden muss. Diagnose: Kreuzbandriss. Für den dynamischen Linksverteidiger das Saisonaus. Nach Operation im UKE und monatelanger Physiotherapie kämpft er sich ins Team zurück.

Tim Leibold fühlt sich heimisch hier in Hamburg. Besonders an der Elbe, direkt am Fischereihafen Restaurant, in dem er schon früher mit seinem Vater war und auch HSV-Legende Uwe Seeler gern zu Gast war. Nach dem Wechsel vom 1. FC Nürnberg zu den Rothosen im Jahr 2018 geht es für den Linksverteidiger und gebürtigen Schwaben steil bergauf. Er spielt eine sehr erfolgreiche Premierensaison, verpasst keine Spielminute und liefert insgesamt 19 Torvorlagen. Seit dem Folgejahr übernimmter auch abseits des Platzes mehr Verantwortung für die Mannschaft, erst als Kapitän, dann als Vize-Kapitän – für Leibold das i-Tüpfelchen seiner Karriere. Er will sein Team zurück in die Bundesliga führen und im DFB-Pokal am liebsten bis nach Berlin.

Dafür gibt er alles. Auch am Abend des 26. Oktober im Pokalspiel gegen seinen Ex-Verein Nürnberg. Bis zur 22. Spielminute, als er nach einem Zweikampf plötzlich einen gellenden Schmerzensschrei ausstößt, der selbst den Fernsehzuschauenden zu Hause bis ins Mark geht. Leibold fasst sich ans Knie und sackt auf dem Rasen zusammen. „Als ich das laute Knacken in meinem Gelenk hörte, wusste ich gleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste", erinnert sich der 28-Jährige, dessen Schreie auch auf der HSV-Bank zu hören sind. „Wir ahnten nichts Gutes und liefen sofort aufs Spielfeld“, erzählt Mannschaftsarzt Prof. Dr. Götz Welsch, gleichzeitig Leiter des UKE Athleticums, „Tim hatte so starke Schmerzen, dass er vom Feld getragen werden musste. Das kommt nicht so häufig vor im Fußball.“ Entsprechend niederschmetternd fällt später die Erstdiagnose in der Kabine aus: Verdacht auf Kreuzbandriss, wahrscheinlich mit Beteiligung von Meniskus und Innenband. Etliche Monate Pause, die Saison ist gelaufen. „Das war im ersten Moment ein echter Schock“, erinnert sich Leibold, „da habe ich schon ein paar Tränen verdrückt.“

Keine Zeit für Tränen: OP und Reha folgen

Doch für viele Tränen bleibt ihm keine Zeit, denn die Behandlung startet bereits in der Kabine. „Wir fingen gleich an, das lädierte Knie mit Kühlung und Kompression erstzuversorgen, um den Schmerz zu nehmen und die Beweglichkeit im Gelenk trotz Verletzung zu erhalten“, erklärt Prof. Welsch. Je besser der Zustand des Knies, desto größer seien die Chancen für eine erfolgreiche Operation und anschließende Rehabilitation, so der Mannschaftsarzt weiter.

Bis zu acht Stunden täglich trainiert „Leibe“
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Bis zu acht Stunden täglich trainiert „Leibe“
Rasentraining
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Auch auf dem Rasen wurde die Intensität langsam gesteigert
Ballgefühl und ein perfektes Timing hat sich Leibold zurückerobert
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Ballgefühl und Timing hat sich Leibold schnell zurückerobert

Tim Leibold ist mit seinen Gedanken noch ganz woanders, als er am nächsten Morgen direkt vom Flughafen in die Unfallchirurgie des UKE gebracht wird. Auf Krücken, mit geschientem Bein – und noch ohne Plan. Dann das Ergebnis des MRT, das die schwere Knieverletzung bestätigt. „Ich war total unten, weil ich noch gar nicht wusste, wie es mit mir weitergehen soll. Ob ich je wieder gegen die Kugel treten kann“, sagt der Fußballprofi , der bei seiner Mannschaft normalerweise für seinen Optimismus und seine Leidenschaft auf dem Platz bekannt und beliebt ist.

Doch schon im Aufklärungsgespräch mit seinem späteren Operateur Prof. Dr. Karl-Heinz Frosch, dem Ärztlichen Leiter der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, fasst Leibold neuen Mut. „Ich verstand, dass meine Verletzung zwar schwer, aber doch auch reparabel war.“ Er beschließt, die Situation fortan positiv anzugehen. Eine Entscheidung, mit der er die erste, ganz wichtige Voraussetzung für sein Comeback auf dem Rasen schafft. „Wieder hemmungslos in die Zweikämpfe zu gehen ohne innere Bremse, ist Kopfsache und gelingt nicht jedem nach einer so schweren Verletzung“, weiß Prof. Frosch aus seiner langjährigen Erfahrung mit Profisportler:innen zu berichten. Kopf und Knie müssten wieder „entkoppelt“, die Gedanken frei werden. Seiner Einschätzung nach bringt Tim Leibold dafür mit seiner durch und durch positiven Grundstruktur allerbeste Voraussetzungen mit.

Verlorene Muskulatur im UKE Athleticum wieder aufbauen

Die Operation im UKE verläuft erfolgreich. Das gerissene Kreuzband ersetzt Prof. Frosch durch zwei Sehnen aus Leibolds Kniekehle; Meniskus und Innenband werden fixiert. Wenige Tage später ist der Fußballer schon wieder auf den Beinen – zwar mit Knieschiene, Unterarmgehstütze und ohne Ball, aber immerhin. „Die Schwellung war durch Physiotherapie und Lymphdrainagen zum Glück schnell Geschichte, sodass ich die Krücken bereits nach fünf Wochen ad acta legen und voll in die Rehabilitation einsteigen konnte.“ Leibold startet im Kraftraum des UKE Athleticums zunächst mit Übungen für den Oberkörper, um verlorene Muskulatur wieder aufzubauen. Langsam tastet er sich vor bis zum Knie. „Die Reha hat eine feste Struktur, in der jede Phase auf der anderen aufbaut und mit einem Test nach dem sogenannten Return-To-Activity-Protokoll (RTA) abschließt“, erläutert UKE-Sportmediziner Dr. Wolfgang Schillings. Durch den schrittweisen Aufbau soll das Risiko einer erneuten Verletzung minimiert werden, damit der Wiedereinstieg ins Mannschaftstraining und in den Spielbetrieb bestmöglich gelingt.

Haben Leibold im UKE Athleticum fit gemacht: Prof. Welsch (l.) und Dr. Schillings
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Prof. Dr. Götz Welsch (l.) und Dr. Wolfgang Schillings

Im UKE Athleticum trainiert Leibold nach dem LowX-Konzept – einem Mix aus Ausdauer, Krafttraining, Beweglichkeit, Sensomotorik und Diagnostik, bei dem Mediziner:innen, Sportwissenschaftler:innen und Physiotherapeut:innen eng zusammenarbeiten. „In der ersten Phase geht es um die Funktionswiederherstellung des verletzten Gelenks durch leichte Kraftübungen, um die Muskulatur wieder gezielt ansteuern zu können“, erklärt HSV-Mannschaftsarzt Welsch. Leibold ist voll dabei, geht in jede Bewegung und besteht den Stabilitätstest am Ende der ersten Phase mit Bravour. „Ich hatte von Anfang an vollstes Vertrauen in meinen Körper, weil ich wusste, dass im Knie wieder alles in Ordnung war.“

Auch wenn er den Profialltag natürlich vermisst – Langeweile hat er nicht. Im Gegenteil stehen mit täglich sechs bis acht Stunden Trainings- und Physiotherapie-Einheiten zeitweise mehr Termine in seinem Kalender als bei den HSV-Teamkollegen. Dass er sie auf dem Feld nicht unterstützen kann, bedrückt ihn häufig. „Natürlich fiebere ich bei jedem Spiel auf der Tribüne mit. Aber es ist schwer, nur zuschauen zu können und dabei genau zu wissen, wie hart die Jungs da unten gerade um Punkte kämpfen“, gesteht Leibold.

Ein fröhlicher und offener Mensch, der andere in schwierigen Situationen mitnimmt

Der Mannschaft fehlt ihr Linksverteidiger nicht nur schmerzlich auf dem Platz, sondern auch in der Kabine. „Fußballerisch und menschlich ist Tim unglaublich wichtig für die Gruppe“, sagt HSV-Coach Tim Walter. Er sei einfach ein fröhlicher und sehr offener Mensch, der andere in schwierigen Situationen aufbaut und mitnimmt – und der auch mal für ein Späßchen zu haben ist. Zum Beispiel, als er zu Zeiten des Corona-Lockdowns und geschlossener Friseurläden in der Kabine selbst zum Rasierer griff und der halben Mannschaft einen Haarschnitt verpasste. Nein, Klagen habe es danach zum Glück nicht gegeben, sagt Leibold lachend, der sich bereits zu Schulzeiten das Haareschneiden selbst beibrachte.

Privat ist er bei schönem Wetter fast täglich auf seiner Vespa unterwegs – einem Liebhaberstück von 1974, das noch der Busfahrer des 1. FC Nürnberg mit viel Liebe zum Detail für ihn restaurierte. Seine andere Schwäche? „Richtig guter Kaffee“, gibt der Profifußballer zu. „Sobald ich mal Zeit habe, möchte ich mehr darüber lernen und einen Baristakurs belegen.“ Bis es soweit ist, genießt er Cappuccino oder Latte Macchiato auch gern in einem der vielen Cafés bei ihm um die Ecke, im Herzen von Ottensen.

Zu Hause fühlt sich „Leibe“, wie ihn Fans und Mitspieler gern nennen, vor allem auf dem Rasen. Im März, rund fünf Monate nach dem Unglücksabend in Nürnberg, darf er erstmals wieder mit dem verletzten Bein gegen die Kugel treten. Er macht zwei, drei zaghafte Schüsse, steigert nach und nach die Intensität. „Fühlt sich gut an“, schwärmt er und strahlt. Sein Vertrauen ist zurück, auch Kraft, Stabilität und Fitness sind nahezu komplett wiederhergestellt. Seit Mai ist Leibold zurück im Mannschaftstraining und soll in der neuen Saison auf dem linken Flügel wieder das Zepter übernehmen. Leider nochmals in der 2. Liga – doch Hauptsache mit vollem Einsatz dabei.

Text: Nicole Sénégas-Wulf; Fotos: Tim Groothuis, Axel Kirchhof