Der Schrei der Seele: „Ich habe mir überall, wo ich war, eine Art Maske aufgesetzt“

Die Tänzerin Andrea Wiese*
Gedanken kreisen darum, wie es weitergehen soll

Ein Druckschmerz im Bauch, ein streikendes Gelenk: Physische Ursachen für ihre Symptome lagen bei der Tänzerin Sofie Wiese* vor. Doch das Ausmaß ihrer Beschwerden ließ sich dadurch nicht erklären. Erst ein Aufenthalt in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im UKE brachte die wahre Ursache zutage.

Ihre Grenze – das war immer etwas, was sie überschreiten wollte. Mit der Tänzerinnenausbildung in Hamburg hatte sich Sofie Wiese* einen Traum erfüllt. Doch gleichzeitig begann damit auch eine Überforderung. „Mit 26 Jahren war ich schon recht alt, um eine Ausbildung zur Bühnentänzerin zu absolvieren“, resümiert die heute 37-Jährige. Umso mehr forderte sie sich in den kommenden Jahren: Nach der Tanzausbildung schlug sie eine Karriere als Tanzlehrerin ein. „Ein harter Job, nach mehreren Stunden Tanzen am Tag ist man einfach durch. Gleichzeitig bleibt man meistens Geringverdienerin, egal wie viel man arbeitet.“

Als sich die ersten körperlichen Beschwerden einstellen – Gelenkschmerzen im Knie, ein starkes Drücken im Bauch – lässt sie diese medizinisch abklären. An ihrem Knie wird ein Meniskusschaden festgestellt, der operativ behandelt werden kann, in ihrem Bauch finden sich Verwachsungen zwischen den Organen. Doch auch nach den Diagnosen und Behandlungen verschwinden die Symptome nicht. „Meine Bauchschmerzen waren teilweise so schlimm, dass schon das Tragen einer Leggings eine Tortur für mich war“, erinnert sie sich.

Gleichzeitig steigt ihr Stresspegel weiter. „Als Freiberuflerin nahm ich immer mehr Aufträge an, um mein Einkommen zumindest ein bisschen zu steigern. Gleichzeitig nagten Zweifel an mir: Bin ich gut genug für eine Tänzerin? Bin ich dünn genug?“ Die kreisenden Gedanken lassen sie kaum mehr los, rauben ihr den Schlaf, lassen sie immer mehr geben im Job. „Ich liebe es, Choreographien zu entwickeln. Sobald ich Musik höre, übersetzt sie sich in meinem Kopf in Körperbewegung. Durch den Tanz kann man Stimmungslagen ausdrücken, das geht sehr in die Tiefe“, erklärt sie.

 Tänzerin Andrea Wiese*
Tänzerin Sofie Wiese*

Bei ihren Tanzschüler:innen freut sie sich, wenn diese Spaß an den Bewegungen haben. Doch mit sich selbst geht Sofie Wiese sehr kritisch um. „Ich bin äußerst perfektionistisch, denke immer: Das hätte ich noch besser machen können“, sagt sie. Als die Sorge um ihr Einkommen sie zusätzlich zwei Teilzeitjobs annehmen lässt, nehmen die Überforderung und der Druck noch weiter zu. „Ich habe mir irgendwann überall, wo ich war, eine Art Maske aufgesetzt und so getan, als sei alles okay, obwohl ich vor Knie- und Bauchschmerzen teilweise kaum laufen konnte“, erzählt sie.

Mit Beginn der Corona-Pandemie wird ihr klar, dass etwas nicht stimmt: „Während andere sich wünschten, dass der Lockdown schnell vorbeigeht, habe ich mir gewünscht, dass er möglichst lange anhält – einfach damit mal ein bisschen Ruhe herrscht.“ Doch im Fortgang der Kontaktbeschränkungen der zweiten Krankheitswelle merkt sie, dass der Eindruck von Ruhe trügerisch war: „Ich habe Onlineunterricht gegeben und Erklärvideos erstellt; das war viel Arbeit, hat mir aber kaum Freude bereitet.“ Und auch ohne die starke Belastung durch den täglichen Unterricht verschlimmern sich ihre Schmerzen. Zu den Knie- und Bauchschmerzen hatten sich längst Rücken-, Hüft und Sprunggelenksbeschwerden gesellt, dazu plagten sie wiederkehrende stechende Kopfschmerzen und eine extreme Müdigkeit.

Tänzerin Andrea Wiese*

Schließlich die Wende: Eine der Ärztinnen, die Sofie Wiese zur nochmaligen Abklärung ihrer starken Bauchschmerzen aufsucht, überweist sie in die Spezialsprechstunde für chronischen Unterbauchschmerz im UKE. Dort wird ihr ein stationärer Aufenthalt in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie empfohlen. Diagnose: Schwere Depression und chronische Schmerzstörung.

„Ich hätte gedacht, dass ein stationärer Klinikaufenthalt Menschen vorbehalten ist, denen es weitaus schlechter geht als mir“, erzählt die Tänzerin. Dass ihr eigener Zustand bereits sehr fragil ist, fällt ihr auf, als sie während ihres UKE-Aufenthalts täglich von Therapeut:innen, Ärzt:innen und Pflegepersonal gefragt wird, wie es ihr geht. „Mir kamen dann schon die Tränen, bevor ich angefangen hatte zu sprechen“, sagt sie. „Denn das kannte ich gar nicht – dass sich jemand dafür interessiert, wie es mir geht.“ Sie muss sich auch erst an den Gedanken gewöhnen, dass sie Hilfe benötigt. „Schließlich ist mir aufgefallen: Ich habe mich eigentlich niemals geschont, nie Urlaub gemacht, mich niemals erholt. Heute weiß ich, Menschen brauchen Erholung, und zwar unbedingt.“

Tänzerin

Während ihres achtwöchigen Aufenthaltes im UKE erkennt sie, welche Verhaltensanforde-
rungen aus ihrer Kindheit einen Druck in ihr erzeugt haben, dem sie irgendwann nicht mehr gewachsen war: „Es hat sich immer angefühlt, als würde ich nicht genug tun“, sagt sie heute. „In meiner Familie war es niemals okay, sich auszuruhen.“ Ausruhen, sich Zeit nehmen für sich – das sind Dinge, die sie erst lernen musste. Inzwischen haben Atemtechniken, gezielte Entspannungsübungen und eine veränderte Bewertung ihre körperlichen Symptome nahezu verschwinden lassen. „Ich habe zum Bespiel mein Leben lang meinen Bauch eingezogen, damit ich dünner aussehe, dadurch hatte ich noch nie richtig tief eingeatmet“, erklärt sie.

Seit einigen Wochen hat Sofie Wiese auch ihren Beruf gewechselt, sie arbeitet jetzt bei einem Hersteller für Tortenzubehör. Tanzen, das kann sie sich noch nicht wieder vorstellen. Zu viele Erinnerungen, zu viel Angst davor, zu versagen. Ob sie ihren Traum eines Tages wieder aufnehmen kann? Sofie Wiese weiß es noch nicht. Wichtig für sie ist zurzeit, ihren Weg zu gehen – ohne Druck, ohne das ständige Gefühl, herausragende Ergebnisse liefern zu müssen.


* Der richtige Name ist der Redaktion bekannt

Sofie Wiese sagt: „Um meine psychische Erkrankung habe ich in meinem persönlichen Umfeld kein Geheimnis gemacht. Alle wissen Bescheid – Freund:innen, Auftraggeber:innen, Schüler:innen.Ich finde es wichtig, offen damit umzugehen. Eine Depression kann jeden treffen.“ – Aus Gründen des Patientinnenschutzes zeigen wir jedoch nicht ihr Gesicht und verwenden einen anderen Namen.

Text: Katja Strube; Fotos: Eva Hecht

In der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie erfahren Sie mehr über Behandlungsmöglichkeiten.