Pandemie als Wendepunkt

Die COVID-19-Pandemie beeinflusst die Gesundheitsversorgung in Deutschland in hohem Maße. Für die Versorgungsforscher:innen des UKE eine besondere Herausforderung – mit Möglichkeiten und Risiken.

„Das Auf und Ab der Pandemiewellen spiegelt sich im Angebot gesundheitlicher Leistungen und in ihrer Inanspruchnahme wider“, erläutert Prof. Dr. Olaf von dem Knesebeck, Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie. Zudem verändern sich ständig die Fragestellungen: „Während es anfangs um Auswirkungen des Lockdowns auf die Gesundheitsversorgung ging, stehen nun Themen wie Unsicherheit beim Impfen, die Beweggründe von Impfzögerern oder Langzeitfolgen von COVID-19 im Fokus.“

Tempo war und ist also gefragt, um die Facetten der Pandemie versorgungswissenschaftlich zu erfassen. Binnen Kurzem wurde eine Vielzahl von Studien konzipiert, umgesetzt, publiziert. Als Beispiel nennt von dem Knesebeck eine im ersten Lockdown unter den 38 Klinikdirektor:innen des UKE durchgeführte Befragung, die den drastischen Rückgang der Belegungszahlen und Ambulanzbesuche dokumentiert. Eine telefonische Umfrage unter 110 Hausärzt:innen im Umkreis von 120 Kilometern bestätigte die verringerte Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen in dieser Phase.

„Manches ist auf der Strecke geblieben, beispielsweise Hausbesuche oder die Beratung bei chronischen Erkrankungen“, berichtet Prof. Dr. Martin Scherer, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Allgemeinmedizin. Offen sei, ob und inwieweit dies zu einer Unterversorgung führte und, wenn ja, welche gesundheitlichen Folgen sich daraus ergaben. Die Beobachtung, dass deutlich weniger Patient:innen als sonst mit Beschwerden wie Rückenschmerzen, Magen-Darm-Problemen oder Schwindel in die Praxen kamen, könnte laut Scherer wiederum „ein Hinweis sein, dass es vor der Pandemie eine Überversorgung gab“.

Ebenfalls unter der Lupe: die Versorgung schwer kranker Patient:innen, hier durch Dr. Geraldine de Heer auf einer UKE-Intensivstation

Ebenfalls unter der Lupe: die Versorgung schwer kranker Patient:innen, hier durch Dr. Geraldine de Heer auf einer UKE-Intensivstation

Höheres Infektionsrisiko im Gesundheitswesen

Klar ist: Beschäftigte im Gesundheitswesen haben ein deutlich erhöhtes Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion. Das zeigt eine Studie des UKE-Arbeitsmediziners Prof. Dr. Albert Nienhaus vom Competenzzentrum Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen (CVcare). Demnach hat sich die Zahl der beruflich bedingten Infektionen von Mai 2020 bis Mai 2021 im Vergleich zu den Vorjahren mehr als verzehnfacht; die Zahl der Todesfälle stieg um das Dreißigfache.

Die Mitarbeiter:innen desCVcare untersuchen nicht nur die Infektionsrisiken, um Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten zu verbessern, sondern auch die Langzeitfolgen nach COVID-19 und den Rehabilitationsbedarf: „Wir konnten belegen, dass rund ein Drittel der Beschäftigten mit Langzeitfolgen von COVID-19 sich eine Rehabilitation wünscht, aber nur drei Prozent diese bisher erhalten haben.“ Erfreulich sei das Ergebnis einer Online-Befragung, wonach die Impfbereitschaft bei Beschäftigten im Gesundheitswesen hoch ist und bereits über 80 Prozent geimpft sind. „Dadurch wird sich das berufliche Infektionsrisiko wieder reduzieren“, so Prof. Nienhaus.

Unter Mitwirkung der UKE-Versorgungsforschung war zu Beginn der Pandemie das Kompetenznetz „Public Health COVID-19“ auf die Beine gestellt worden. Rund 30 Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bündeln darin ihre Studienergebnisse und stellen sie für die aktuelle Diskussion und politische Entscheidungsfindung zur Verfügung. Das UKE ist unter anderem mit Prof. Dr. Dr. Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie, vertreten. Er koordiniert die Arbeitsgruppe zur Risikokommunikation und -wahrnehmung und konstatiert: „In der öffentlichen Kommunikation ist nicht immer alles nach den Regeln der Kunst gelaufen.“ Oft seien Informationen nicht adressat:innengerecht aufbereitet und deshalb vielfach auch nicht von allen verstanden worden. „Manche Bevölkerungsgruppe wurde deshalb vermutlich nicht erreicht, inklusive der Impfzauderer“, so Prof. Härter.

Hamburger:innen über COVID-19 gut informiert

Das Gros der Hamburger Bevölkerung ist gut informiert, wie kürzlich eine telefonische Befragung zeigte:1200 Teilnehmende wurden gebeten, die fiktive Fallgeschichte einer Person mit COVID-19-Symptomen zu beurteilen, ohne die Diagnose zu kennen. Zwei Drittel erkannten, dass es sich um COVID-19 handelt, und mehr als 80 Prozent würden sich bei entsprechenden Symptomen an ihre:n Hausärzt:in wenden oder die 116117 wählen – „so wie es im Gesundheitssystem gewünscht wird“, sagt Prof. von dem Knesebeck. Manche Forschungsprojekte gerieten jedoch ins Stocken oder mussten abgebrochen werden, weil Teilnehmende unter Pandemiebedingungen nicht befragt, die Teilnehmendenzahlen im Studienzeitraum nicht erreicht werden konnten.

Als positiven Effekt der Pandemie beurteilen die UKE-Versorgungsforscher:innen die Geschwindigkeit, mit der die Digitalisierung vorangetrieben wurde. Prof. Härter nennt als Beispiel die psychosoziale Betreuung von Krebspatient:innen. „Wir konnten sehr schnell auf Video-Sprechstunden umstellen.“ Die Pandemie habe insgesamt das Spektrum der Hamburger Versorgungsforschung erweitert, betont Prof. von dem Knesebeck: „Bisher lag unser Fokus auf chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Herzkrankheiten, Krebs oder psychischen Störungen. Dagegen spielten Infektionskrankheiten eine eher untergeordnete Rolle. Wir betrachten es als Chance, uns diesem Thema stärker zu stellen.“

Text: Ingrid Kupczik, Fotos: Ronald Frommann, Axel Kirchhof