Der Schrei der Seele: „Ich dachte, mein Leben ist vorbei“

Schwere Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit, dann ein starkes Rauschen im Ohr: Harald Seifert* hatte sein Leben lang alles unter Kontrolle. Auch mit steigendem Stresslevel versucht er weiterhin, die Anforderungen zu erfüllen. Erst als es ihm so vorkommt, als könnte es nicht mehr weiterweitergehen für ihn, bringt die Diagnose „Depression“ Licht ins Dunkel.

Alles im Griff: Das ist das Gefühl, das Harald Seifert gern hat. Der 59-Jährige arbeitet in der Finanzabteilung eines börsennotierten Unternehmens, mit Führungsverantwortung für ein kleines Team. Von den Berichten, die er zusammenstellt, hängt vieles ab. Als die Deadlines enger und immer mehr Berichte in kürzerer Zeit angefordert werden, gerät der Familienvater in Stress. „Ich konnte den Druck nicht mehr in meinem privaten Leben kompensieren.“ Seiner erwachsenen Tochter geht es schlecht, sie lebt in einer anderen Stadt, hat Probleme während ihres Studiums. Wenn sie bei ihren Eltern anruft, muss sie häufig weinen.

Appetitlosigkeit und Magendrücken

„Diese Situation, in der meine Tochter Hilfe benötigt, die ich ihr nicht geben kann, hat mich vollkommen ausgehöhlt“, berichtet Harald Seifert. Er hat keinen Appetit mehr, leidet an Magendrücken. „Ich bin von einem Arzt zum nächsten gerannt, hatte dann eine Magenspiegelung, die keine Diagnose ergeben hat.“ Hinzu kommen nach kurzer Zeit heftige Rückenverspannungen. Auch hier ergeben die Untersuchungen keine körperliche Ursache. Schließlich, als Harald Seifert schon kaum mehr weiß, wohin vor Schmerzen, entsteht in seinem Hinterkopf ein Summen. „Wie ein alter Röhrenfernseher“, sagt er. „Ein ununterbrochenes Summen und Rauschen.“

Der medizinische Verdacht lautet auf Schlaganfall, in der Notaufnahme eines Hamburger Krankenhauses wird eine Computertomographie seines Kopfes angefertigt. Ein Schlaganfall war es nicht, so das Ergebnis, doch das hat bei Weitem keine beruhigende Wirkung auf Harald Seifert. Denn die Diagnose lautet nun: Tinnitus. Das Geräusch in seinem Kopf setzt ihm unglaublich zu. „Bei mir ist eine Welt zusammengebrochen. Ich dachte, mein Leben sei vorbei.“

Besuch in orthopädischer Praxis bringt nichts

Eine Weile versucht Harald Seifert noch weiter zu arbeiten, doch nun kommen auch noch Taubheitsgefühle in den Händen dazu. Auch hier bringt ein Besuch in einer orthopädischen Praxis keine Aufklärung über die Ursache. Als Harald Seifert wegen dieser körperlichen Symptome nicht mehr arbeiten kann, hört er von der Psychosomatischen Ambulanz im UKE . „Bei mir wurde direkt eine schwere depressive Episode diagnostiziert und ich habe wenige Tage später einen stationären Therapieplatz angeboten bekommen“, berichtet er.

Bei seinem Aufenthalt setzt er sich in verschiedenen Therapieangeboten mit seiner Situation auseinander. „Zu Beginn habe ich immer noch nicht glauben wollen, dass all meine Symptome – Tinnitus, Missempfindungen in den Händen, meine Bauch- und Rückenschmerzen – psychisch bedingt sein sollen.“ Seine starken Muskelverspannungen werden zudem physiotherapeutisch behandelt, die Taubheitsgefühle der Hände verbesserten sich.

Eine neue Sicht entwickelt

Nach wenigen Wochen in der Klinik hat Harald Seifert eine ganz neue Sicht auf sich entwickelt: „Ich weiß jetzt, dass ich eine Krankheit habe – an der sterbe ich jedoch nicht“, sagt er. Seine Bauchschmerzen, das Geräusch in seinen Ohren: Es waren Stresssymptome, weil er ständig über seine Grenzen gegangen ist. „Hier im UKE habe ich mich mit meiner Lebensgeschichte beschäftigt und mich gefragt: Warum ist meine Anspannung so hoch?“

Harald Seifert kennt nun Tools und Methoden, um sich entspannen zu können. Sein stressiger Joballtag belastet ihn nicht mehr so stark wie zuvor: „Ich weiß jetzt, wie man meditiert, habe Atemübungen und Progressive Muskelentspannung gelernt und mache wieder Sport. Und wenn ich morgens 20 Mails in meinem Posteingang habe, die mir Stress bereiten, setze ich mich nicht fieberhaft daran, sondern schaue, dass ich erst einmal durchatme und mich entspanne. Ich frage mich jetzt auch: Was ist eigentlich das Schlimme, wenn ich etwas nicht schaffe?“

Seine Arbeitszeit möchte er künftig reduzieren. Doch es ist keine ganz leichte Vorstellung, in seinem beruflichen Umfeld von seiner Situation zu erzählen. Harald Seifert möchte das gern ändern: „Depressionen gelten oft als Makel, über den man lieber nicht redet. Dabei ist es immens wichtig, über seine Ängste, Schwächen und Gefühle zu sprechen“, betont er.

Ansprüche zurückschrauben

Auch im privaten Umfeld hat er seinen Anspruch zurückgeschraubt, sich um alles zu kümmern, für alles verantwortlich zu fühlen. „In bestimmten Rollenmustern wird man ja auch von außen bestätigt: Stark zu sein, gehört dann zum Bild eines Ehemanns und Vaters.“ Von seiner Tochter hat er bereits positive Rückmeldungen dazu bekommen, dass er nun mehr von seinen eigenen Gefühlen zeigt und auch zugibt.

„Am schlimmsten waren im Nachhinein gar nicht meine körperlichen Beschwerden, sondern es war die Angstspirale, in der ich mich befand“, so Harald Seifert heute. „Wenn der Tinnitus nicht noch obendrauf gekommen wäre, hätte ich niemals die UKE-Ambulanz aufgesucht.“ Ganz ist das Ohrgeräusch nicht verschwunden. Doch er weiß jetzt, was er tun muss, wenn es lauter wird: Stress vermeiden, sich entspannen, zum Beispiel ein heißes Bad nehmen oder intensiv Musik hören. Harald Seifert bezeichnet seinen Tinnitus nun als „ein Alarmsignal meines Körpers“.


* Der richtige Name ist der Redaktion bekannt

Text: Katja Strube; Foto: Axel Kirchhof

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