Großes Leid vermeiden


Gesunde Kinder verlieren Schritt für Schritt ihre geistigen und motorischen Fähigkeiten. Für Eltern eine kaum zu ertragende Vorstellung. UKE-Forschende untersuchen jetzt, ob sich Kinderdemenz bereits kurz nach der Geburt diagnostizieren und erfolgreich behandeln lässt.


Text: Uwe Groenewold, Fotos: Axel Kirchhof

„Mit dem Neugeborenenscreening wollen wir prüfen, ob wir die Veranlagung für die CLN2-Erkrankung frühzeitig feststellen und bestenfalls deren Ausbruch durch eine gezielte Behandlung verhindern können“, sagt Prof. Dr. Gwendolyn Gramer, Ärztliche Leiterin des Neugeborenenscreenings in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Klinikleiterin Prof. Dr. Ania C. Muntauerläutert: „Wir sind im Kinder-UKE auf die interdisziplinäre Versorgung und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit komplexen und seltenen Erkrankungen spezialisiert. Ein Schwerpunkt mit aktuell über 250 Patient:innen sind die Krankheiten aus der Gruppe der Kinderdemenz, der Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL).“ Diese Kinder seien initial vollkommen gesund, bis sie unerwartet begännen, ihre geistigen und motorischen Fähigkeiten zu verlieren und unbehandelt früh an der Krankheit versterben.

Bisher gibt es nur für eine der NCL-Formen, die im frühen Kindesalter beginnende CLN2-Krankheit, eine Therapiemöglichkeit. „Bei dieser Erkrankung kommt es im Alter von 2 bis 4 Jahren zu einem fortschreitenden Verlust vorhandener Fähigkeiten und letztlich zu einem schwerwiegenden neurologischen Krankheitsbild“, beschreibt Prof. Dr. Angela Schulz, Professorin für Seltene Erkrankungen im Kinder-UKE und spezialisiert auf die Versorgung betroffener Kinder und die Erforschung von NCL, die Situation. „Die Kinder leiden an Krampfanfällen, einem zunehmenden Verlust der Gehfähigkeit und Sprache sowie einem fortschreitenden Sehverlust bis zur Erblindung. Unbehandelt versterben sie nach einer mehrjährigen Phase der Bettlägerigkeit meist zwischen 6 und 12 Jahren.“

Am Kinder-UKE, dem größten internationalen Studienzentrum, wurde in den vergangenen Jahren die erste zugelassene Therapie für die CLN2-Krankheit entwickelt. Junge Patient:innen aus dem In- undAusland kommen seitdem ins UKE, um die Chance auf eine Behandlung wahrzunehmen. Bei dem Verfahren handelt es sich um eine Enzymersatztherapie, die alle zwei Wochen in den Hirninnenraum verabreicht wird und das Fortschreiten der Krankheit signifikant verlangsamen kann. Prof. Schulz: „Neue Studienergebnisse zeigen außerdem, dass durch die Therapie der Ausbruch der Krankheit erfolgreich verzögert werden kann, wenn die Kinder vor dem Auftreten erster Symptome mit der Behandlung starten.“ Ein heute 7Jahre altes Mädchen, das im Alter von 1,5 Jahren mit der Therapie begonnen hatte, könne nicht nur als erste Patientin mit dieser Krankheit rennen, klettern und Fahrrad fahren, sondern auch gesund die Grundschule besuchen und genau wie ihre gleichaltrigen Freunde lesen, schreiben und rechnen lernen. „Das war bei dieser Krankheit bisher undenkbar, weil die Kinder im Einschulungsalter bereits schwer erkrankt waren“, so Prof. Schulz.

Zitat Frau Prof. Dr. Gwendolyn Gramer
Zitat Frau Prof. Dr. Gwendolyn Gramer
Zitat Frau Prof. Dr. Gwendolyn Gramer
Das Neugeborenenscreening- Team
(v.l.): Prof. Dr. Gwendolyn Gramer, Prof. Dr. Ania C. Muntau, Prof. Dr. Angela Schulz und die Technische Laborleiterin Dr. Simona Murko
Labor Neugeborenenscreening

Michelle Vogts nimmt Analysen im Neugeborenenscreeningslabor vor
Neugeborenenscreeninglabor

Eindrucksvoll: der Pipettierautomat im Neugeborenenscreeninglabor
Zitat Frau Prof. Dr. Angela Schulz
Zitat Frau Prof. Dr. Angela Schulz
Zitat Frau Prof. Dr. Angela Schulz

Aufgrund dieser Ergebnisse hat das Forschungsteam im Kinder-UKE ein Pilotprojekt initiiert, um mögliche CLN2-Erkrankungen frühzeitig flächendeckend zu erkennen. Dabei wird CLN2 im Rahmen einer klinischen Studie in das herkömmliche Neugeborenenscreening aufgenommen. „Das Neugeborenenscreening ist eine Blutuntersuchung in den ersten Lebenstagen, die in Deutschland für alle Kinder als Vorsorgeuntersuchung empfohlen ist. Diese Untersuchung dient der Früherkennung angeborener behandelbarer Krankheiten“, erläutert Prof. Gramer. Wenige Blutstropfen, die auf eine Filterpapierkarte getropft und im Labor analysiert werden, reichen für die Untersuchung aus. Das Screening auf CLN2 erfolgt aus derselben Blutprobe, die den Neugeborenen ohnehin abgenommen wird.

Die Blutanalyse findet unmittelbar im UKE statt. „Unser Neugeborenenscreeninglabor ist eines von 11 Screeninglaboratorien in Deutschland und führt Screeninguntersuchungen für jährlich rund 50 000 Neugeborene aus dem norddeutschen Raum durch“, so Prof. Gramer. Das Pilotprojekt wird in Kooperation mit weiteren Screeninglaboren unter anderem in Berlin und Leipzig durchgeführt und zum Beispiel vom Deutschen Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ) und vom Freundeskreis UKE für Kinder mit Demenz gefördert. Die Studie schließt bis zu 300 000 Neugeborene ein. Ob und wann über eine Aufnahme von CLN2 in die Reihenuntersuchung entschieden wird, ist noch unklar. Prof. Gramer: „Unser Ziel ist es, allen Kindern in Deutschland im Rahmen des Regelscreenings eine frühe Diagnose und erfolgreiche Therapie gegen die Kinderdemenz CLN2 zu ermöglichen.“

Das Neugeborenenscreening

ist eine erfolgreiche Maßnahme zur Vermeidung gesundheitlicher Beeinträchtigungen und umfasst in Deutschland derzeit 19 Zielkrankheiten: 13 Stoffwechselkrankheiten, 2 Hormonkrankheiten, Mukoviszidose, schwere kombinierte Immundefekte, die Sichelzellkrankheit und die spinale Muskelatrophie. Das Screening ermöglicht bei fast allen Kindern eine Diagnosestellung vor dem Auftreten von Krankheitssymptomen, eine frühe Behandlung und eine normale Entwicklung. Weitere allgemeine Informationen auf den Internetseiten der Fachgesellschaft:

Mehr Informationen?

Kontaktdaten und Elterninformationen unter uke.de/neugeborenenscreening