Gewalt erkennen

Sie als Ärztin, Arzt, Pflege- oder Gesundheitsfachkraft können in Situationen kommen, in denen Sie nicht sicher sind, ob Menschen, die sie behandeln bzw. pflegen Gewalt erfahren haben.

Sprechen Patientinnen oder Patienten Gewalterfahrungen an, ist die Sachlage klar. Dies ist allerdings nicht häufig der Fall und besonders selten, wenn es sich um familiäre Gewalt oder Partnergewalt handelt. Abhängigkeitsverhältnisse erschweren eine klare Äußerung von Gewalterfahrungen. Angst, Scham oder Unsicherheit über die Folgen sind Gründe dafür, weshalb Patientinnen und Patienten eher den Sturz von der Treppe oder das Anstoßen gegen eine offen stehende Schranktür erfinden. Sie als Ärztin bzw. Arzt, Pflege- oder Gesundheitsfachkraft sind manchmal die einzigen Außenstehenden, an die sich Betroffene in dieser Situation Hilfe suchend wenden. Sie nehmen deshalb eine Schlüsselposition ein, wenn es darum geht, die Anzeichen von Gewalt zu erkennen und zu dokumentieren.


Warnsignale

Einen in der Gesundheitsversorgung Tätigen Hinweise geben, an Gewalt als Ursache für Beschwerden zu denken. Sie sind im Zusammenhang mit Partnergewalt entwickelt, können aber auch auf andere Gewaltkontexte übertragen werden:

  • Es liegen Verletzungen vor, die nicht mit der Erklärung übereinstimmen.
  • Es kommt zu einer zeitlichen Verzögerung zwischen dem Zeitpunkt der Verletzung bzw. dem Auftreten der Beschwerden und dem Aufsuchen der Gesundheitsversorgung.
  • Patient:in stellt sich wiederholt mit chronischen Beschwerden ohne erkennbare Ursache oder mit unklarem Beschwerdebild vor.
  • Patient: in ist in Begleitung einer Person, die nicht von der Seite weicht und kontrollierend ist; ebenso auffallend können übervorsorgliche Begleitungen sein.
  • Patient: in wirkt auffällig ängstlich und unsicher.
  • Vereinbarte Termine werden nicht wahrgenommen. Die Schwangerschaftsvorsorge wird unregelmäßig oder gar nicht in Anspruch genommen.


Screening, aber wie?

Für eine systematische Erfassung von Gewalt wurden international verschiedene Fragen (Screening-Instrumente) entwickelt. Nur eines der Instrumente ist auch deutschsprachig validiert, der „Partner Violence Screen“ (PVS).

Das Instrument besteht aus 4 Hauptfragen:

  • Sind Sie von jemandem geschlagen, getreten, geboxt oder auf andere Art körperlich angegriffen worden?
  • Sind Sie von jemandem bedroht, zu etwas gezwungen worden oder wurde Ihnen Angst gemacht?
  • Fühlen Sie sich derzeit in Ihrem sozialen Umfeld und Ihrem Zuhause sicher?
  • Hat Ihr aktuelles Anliegen etwas mit den oben genannten Umständen zu tun?

Nach sexualisierter Gewalt wird mit dem Instrument nur indirekt gefragt. Der körperliche Angriff oder die Frage nach Zwang kann sich darauf beziehen.

Speziell für die ambulante Pflege gibt es den „Verdachtsindex Misshandlung im Alter" (VIMA). Dieser enthält fünf kurze Fragen zu körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie Vernachlässigung und materieller Ausbeutung, die an die Pflegebedürftigen selbst gestellt werden. Zudem enthält er eine Frage nach der Fremdeinschätzung durch die Pflegefachkraft.


Evidenz von Screening

Evidenz im Sinne einer wissenschaftlichen Beweisführung für die Einführung einer generellen systematischen Befragung zu Gewalterfahrungen liegt derzeit nicht vor.