FILM: Jenseits der Stille, die Geschichte von Emily + Helen

Wieder ganz Ohr

Sommer an der Alster, Zeit zum Genießen. Wenn Emily im Takt der Musik durch Hamburgs Innenstadt schlendert, trägt die 18-Jährige keine Kopf­hörer. Den Sound sendet sie von ihrem Smartphone per Bluetooth direkt an ihr Innenohr. Früher war Emily – wie ihre Schwester Helen – nahezu gehörlos. Im UKE erhielten Helen und Emily Cochlea-Implantate. Die künstlichen Innenohren ermöglichen den beiden nun einen Alltag jenseits der Stille.

Emily und Helen Cohrs umarmen einander innig
Ein Herz und eine Seele: Helen (l.) und Emily

Die Hörschädigung kam schleichend in den ersten Lebensjahren. „Unsere Eltern können beide hören; die Ursache für den Verlust unseres Gehörs ist unbekannt“, berichtet Helen mit klarer Stimme. Vor acht Jahren wurde der 22-Jährigen im UKE eine Art künstliches Innenohr eingesetzt, ein sogenanntes Cochlea-Implantat. Am gleichen Tag wurde auch ihre jüngere Schwester Emily operiert. „Wir wussten nicht genau, was uns erwartet“, erinnert sich Emily, „aber schlechter als vorher konnte es nicht mehr werden: Neben mir hätte jemand Trompete spielen können – ich hätte nichts davon gehört.“

Helen zeigt das Implantat hinter ihrem Ohr
Der Sender des innen liegenden Empfängers ist gut sichtbar

Während akustische Hörgeräte die Geräusche der Umgebung verstärken, ersetzen die Cochlea-
Implantate (CIs) die Funktion der Innenohren. „Nach der Operation mussten wir erst einmal neu hören lernen“, erzählt Helen. In einer mehrwöchigen ambulanten Rehabilitation wurden die CIs der beiden individuell angepasst und nachjustiert. Ein Jahr später folgte jeweils die Operation am anderen Ohr.

Die Welt hörend erleben
Nun, mit den gut eingestellten Geräten, können die Schwestern ganz selbstverständlich an kommuni­ka­tiven Situationen teilnehmen, sich über gesprochene Sprache mit anderen austauschen. Ein wichtiger Teil ihres Lebens ist Musik. Emily setzt sich sehr gern ans Klavier im Haus ihrer Eltern: „Dabei kann ich gut entspannen. Mit den CIs lassen sich die Töne besser als früher unterscheiden, sie klingen klarer.“ Auch telefonieren können die Schwestern nun problemlos; untereinander mittels App sogar ohne Umweg über die akustischen Empfänger – direkt vom Smartphone zum CI der anderen. Die Cochlea-Implantate erleichtern den beiden das Leben sehr.

Helen zeigt auf etwas, ihre Schwester Emily Cohrs blickt in die gleiche Rechnung

„Vorher, mit Hörgeräten, musste ich in manchen Situationen zehnmal nachfragen, weil ich etwas nicht verstanden hatte“, erzählt Emily. „Heute bei komplizierten Fällen vielleicht noch zwei- bis dreimal.“ Wenn Emily spricht, hat sie wie ihre Schwester eine glas­klare Aussprache.

Wie Menschen sprechen, hängt zu einem großen Teil davon ab, ob und wie gut sie hören können. „Als kleine Kinder konnten wir noch ein bisschen hören und haben so die gesprochene Sprache erlernt“, sagt Helen. Kinder, die gar nichts hören, haben jedoch große Schwierigkeiten beim Sprechen. Ihnen fällt es meist leichter, sich mit anderen über Gebärden zu verständigen. Weil auch sie sich als Teil der Gehörlosencommunity versteht, war es Helen wichtig, auch die Gebärdensprache zu erlernen. Ihrer jüngeren Schwester Emily hat sie einige Gebärden beigebracht. „Gebärden sind für uns eine tolle Möglichkeit der Kommunikation“, erläutert Helen. „Aber wir sind nicht mit der Gebärdensprache aufgewachsen, nutzen sie also nicht intuitiv. Wenn mehrere Personen um uns herum gleichzeitig Gebärden einsetzen, ist das natürlich auch sehr anstrengend.“

Priv.-Doz. Dr. Wiebke Laffers aus der HNO-Klinik untersucht Emily
Priv.-Doz. Dr. Wiebke Laffers aus der HNO-Klinik untersucht Emily

Viel Lärm – oder komplette Stille
Als anstrengend empfinden beide manchmal auch das Hören. Im Urlaub, am Strand, genießen sie es, der lauten Welt zu entfliehen, und nehmen die Empfangsgeräte ab: „So, wie man auch eine Uhr ablegt, wenn man entspannen möchte“, verdeutlicht Helen. Die äußeren Teile der CIs sind mit einem Magneten an dem eigentlichen Implantat angeheftet und können einfach abgestreift werden. „Einziger Nachteil am Strand: Man hört dann auch das Wellenrauschen nicht mehr!“, lacht Emily.

Helen Cohrs steht mit ihrer Schwester eisessend auf einer Treppe, sie lächeln einander an

Die Schwestern meistern ihren Alltag mit viel Humor. Überhaupt nicht witzig finden sie hingegen respektloses Verhalten. „Wenn ich früher gesagt habe, ich höre nichts, gab es Menschen, die mich angeschrien oder mich in eine bestimmte Richtung gedreht haben, anstatt mich einfach anzutippen und auf etwas zu zeigen“, berichtet Helen. Sie will sich auch beruflich für gehörlose Menschen einsetzen: Sie studiert Sonderpädagogik an der Universität Hamburg und will im Herbst ein Praktikum in einer Schule für Gehörlose in Kolumbien absolvieren. Auch Emily ist voller Pläne: Sie macht gerade ihr Abitur und möchte dann gleichfalls in Hamburg studieren. „Ich könnte mir gut vorstellen, in eine Wohngemeinschaft mit hörenden und nicht hörenden Mitbewohnerinnen zu ziehen“, sagt sie.
Dank der Implantate hören zu können, ist zu einem normalen Teil des Alltags der beiden Schwestern
geworden. „Die CIs haben dazu beigetragen, dass wir uns zum Beispiel im Straßenverkehr sicherer und nicht überfordert fühlen“, verdeutlicht Helen. Beide unterhalten sich mit anderen in der Schule und in der Uni, treffen Freunde, gehen zu Konzerten. Sie können Geräusche zuordnen und hören es, wenn jemand sie anspricht – außer, sie sind gerade ganz in die Musik aus ihren Smartphones versunken. Wie andere junge Menschen auch. Nur ohne Kopfhörer.

Das sagen unsere Experten

Helen (r.) und Emily genießen die gemeinsame Zeit in Hamburgs City
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Helen (r.) und Emily genießen die gemeinsame Zeit in Hamburgs City
Gegenüber den Alsterarkaden lässt es sich entspannt chillen
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Gegenüber den Alsterarkaden lässt es sich entspannt chillen
 Sie verstehen sich auch in der trubeligen Hamburger Innenstadt problemlos
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Sie verstehen sich auch in der trubeligen Hamburger Innenstadt problemlos
Emily beim Hörtest in der HNO-Klinik des UKE
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Emily beim Hörtest in der HNO-Klinik des UKE
Eindrucksvolle Schemazeichnung: Der elektronische Empfänger ist in den Schädelknochen eingesetzt
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Eindrucksvolle Schemazeichnung: Der elektronische Empfänger ist in den Schädelknochen eingesetzt

Text: Katja Strube, Fotos: Axel Kirchhof