Angriff aus dem Rückenmark

Fast alle Menschen erkranken an Windpocken, meist im Kindesalter. Die Krankheit bekommt man nur einmal. Doch das Virus kann später erneut ausbrechen – als Gürtelrose. Manchmal hat sie schwerwiegende Folgen. So wie bei dem 76-jährigen Jürgen Thomaschewsky, der zuvor fit und gesund war. Nun kämpft er darum, seine Hand wieder normal bewegen zu können.

Ein stechender Schmerz in der Schulter. Ganz plötzlich war er da. Jürgen Thomaschewsky glaubte an Verspannungen. „Vielleicht von falschem Sitzen“, so meinte er. Über mehrere Wochen hielten die starken Schmerzen ihn in ihrem Bann. Mit heißen Bädern, Thermopflastern und Schmerztabletten versuchte er, die vermeintliche Muskelverletzung zu kurieren. Doch sein Zustand wurde nicht besser – im Gegenteil. Die Schmerzen zogen bald vom Schulterbereich bis in den Arm. Nachts konnte der pensionierte Beamte kaum noch schlafen, lief unruhig durch die Wohnung in Wellingsbüttel, die er mit seiner Ehefrau Heidrun (68) bewohnt.

Prof Schneider erläutert das Krankheitsbild
Im Alter steigt die Erkrankungsgefahr, erläutert Prof. Schneider

An einem Samstag im März 2017 wandte er sich an seinen Hausarzt. Nachdem auch eine Schmerzspritze kaum Wirkung zeigte und sich zusätzlich über Nacht ein Ausschlag am Oberkörper entwickelt hatte, reagierte der Arzt schnell und entschlossen: „Sie müssen sofort ins Krankenhaus, am besten direkt ins UKE“, sagte er. Die Diagnose: eine schwere Gürtelrose. „Die Gürtelrose ist eine Spätfolge des Windpockenvirus“, erläutert Prof. Dr. Stefan W. Schneider, Direktor der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Venerologie. Jeder, der als Kind die Windpocken hatte, kann sie bekommen – und das sind in Deutschland nahezu 100 Prozent der Erwachsenen.

Ein Virus aus der Herpesfamilie

Der Krankheitserreger, das Herpes-zoster-Virus – ein Virus aus der Familie der Herpesviren, zu denen auch die verbreitete Form des „Lippen-Herpes“ sowie die genitale Form des Herpes gehören – zieht sich nach überstandener Windpockeninfektion ins Rückenmark zurück und bleibt dort. Die Immunabwehr ist durch die Erkrankung darin geschult, den Erreger zu bekämpfen, und hält das Virus davon ab, wieder auszubrechen. Über mehrere Jahrzehnte „erinnert“ sich das Immunsystem noch an den Windpockenerreger. „Bis etwa zum mittleren Alter von 45 oder 50 Jahren hält die Schutzwirkung durch die überstandene Erkrankung an“, sagt Prof. Schneider. Doch mit höherem Lebensalter steige die Gefahr, dass das Virus erneut ausbricht. Besonders betroffen: Patienten über 60 Jahre und solche mit geschwächtem Immunsystem. Es gebe jedoch, so Prof. Schneider weiter, durchaus auch 30- oder 40-Jährige, die mit Herpes zoster, der Gürtelrose, in die UKE-Hautklinik kommen. Oder Patienten, die wie Jürgen Thomaschewsky zwar über 70 sind, aber bisher topfit waren.

Jürgen Tomaschewsky schildert Priv.-Doz. Dr. Nina Booken die Beschwerden

Jürgen Thomaschewsky schildert Dr. Nina Booken seine Beschwerden
Jürgen Tomaschewsky trainiert seine Hand mit einerm Trainingsgerät

Täglich trainiert Jürgen Thomaschewsky seine Hand
Jürgen Tomaschewsky und Priv.-Doz. Dr. Nina Booken verstehen sich gut und lachen

Ärztin und Patient verstehen sich gut
Jürgen Tomaschewsky massiert sein Handgelenk mti einem kleinen Rollgerät

Jürgen Thomaschewsky massiert sein Handgelenk mit einem kleinen Rollgerät
Jürgen Thomaschewsky rollt einen stacheligen Gummiring über seinen kleinen Finger

Der stachelige Gummiring soll die Nerven im Fingerbereich stimulieren
jürgen Tomaschewsky und seine Frau sitzen im Kaffee bei Kuchen und Capuccino
Ehefrau Heidrun ist froh, dass es ihrem Mann besser geht

Wieder lernen, eine Gabel zu halten

Für Jürgen Thomaschewsky begann die eigentliche Tortur, als er die akute Gürtelrosen-Erkrankung überstanden hatte: Zwei Finger seiner linken Hand konnte er nicht mehr richtig bewegen, zusätzlich litt er an Gefühlsstörungen seiner Hand. Noch mehrere Wochen nach dem Klinikaufenthalt war er auf Schmerztabletten angewiesen. Langsam ging es wieder bergauf: Nach einigen Monaten verschwanden die Gefühlsstörungen und er kann inzwischen auch die Finger besser bewegen – „es klappt wieder, eine Gabel zu halten“, freut er sich. Doch die neurologischen Folgeschäden der Gürtelrose-Erkrankung bestimmen weiterhin sein Leben: Zweimal wöchentlich geht er zur Physio- und zur Ergotherapie, um einfache, alltägliche Handgriffe wieder zu lernen. Zusätzlich sind regelmäßige Arztkon­trollen erforderlich. Um die Folgen der Erkrankung zu lindern, trainiert Jürgen Thomaschewsky täglich seine Handmuskulatur mit speziellen Geräten und regt mit einem Massagering die Nerven dazu an, sich zu regenerieren. „Bis es so weit war, dass ich einen Expander zusammendrücken konnte, habe ich mit einer Wäscheklammer geübt“, verdeutlicht er.

Auch fast zwei Jahre nach der Erkrankung muss Jürgen Thomaschewsky regelmäßig Medikamente einnehmen, sonst schwillt sein Handgelenk an. Ob die Symptome an seiner Hand vollständig kuriert werden können – diese Frage kann derzeit niemand endgültig beantworten. Für Dr. Booken ist ein früher Behandlungsbeginn der Schlüssel zur Vermeidung von Folgeschäden: „Einschießende Schmerzen, die auf einer Seite des Körpers auftreten, sind ein absolutes Alarmsignal!“, sagt die Oberärztin. Außerdem setzt sie wie Prof. Schneider große Hoffnungen in die neue Impfung.

Text: Katja Strube, Fotos: Ronald Frommann