Lady Montagu und die Pockenimpfung

 Statistik der Kinder- und Säuglingssterblichkeit um 1800, 1901 - 1931
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Statistik der Kinder- und Säuglingssterblichkeit um 1800, 1901 - 1931

Auf der abgebildeten Statistik über die Kindersterblichkeit im Deutschen Reich um 1800, die im Raum „Erfassung und Fortschritt“ unserer Dauerausstellung zu sehen ist, begegnet uns eine unglaubliche Zahl: Im 18. Jahrhundert betrug die Kindersterblichkeit bis zum fünften Lebensjahr um die 50 Prozent. Eine der wesentlichen Ursachen waren die Pocken, eine endemisch vorkommende Erkrankung. Schätzungsweise 400.000 Menschen starben jährlich daran in Europa. Die hohe Kindersterblichkeit führte dazu, dass die Bevölkerungszahl trotz hoher Geburtenraten nicht bedeutsam anstieg. Überlebende litten häufig an Blindheit, Taubheit, Lähmungen oder entstellenden Narben als bleibende Schäden.

Obwohl oder vielleicht weil die Erkrankung so häufig war, zählten Ärzte die Pocken nicht zu den ansteckenden Erkrankungen, sondern interpretierten diese nach der Lehre Galens als Ausdruck eines gestörten Blutflusses. Über die eitergefüllten Blasen könne das schlechte Blut abfließen und der Blutfluss wieder harmonieren. Zur Behandlung legte man die Kranken einer Familie in einen Raum, schloss Fenster und Türen und heizte ordentlich ein. Mit dieser Schwitzkur sollte der Prozess beschleunigt werden. Die Krankheit galt als Läuterungs- und Reifungsprozess, der nicht unterdrückt werden dürfe. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit wurden Kinder in der Regel erst zur Familie gezählt, wenn sie die Erkrankung durchgestanden hatten.

Die Idee des Reifungsprozesses durch Krankheiten ist wissenschaftlich längst widerlegt. In der Auffassung einiger Impfgegner lebt das Konzept jedoch bis heute weiter. Sie behaupten, Kinder würden sich nach durchgemachter Masernerkrankung besser entwickeln als nach einer Impfung.

Bekannt ist der englische Arzt Edward Jenner (1749-1823), der die Impfung gegen Pocken mit der harmlosen Variante der Kuhpocken 1796 einführte. Dass mit Kuhpocken infizierte Melkerinnen gegen die Menschenpocken immun waren, hatte die Landbevölkerung schon lange beobachtet. Vaccination, nach vacca (lat. die Kuh), wurde das neue Verfahren genannt. Mit der verpflichtenden Einführung der Pockenimpfung (in Bayern 1803) gelang es, die Kindersterblichkeit auf 20 bis 25 Prozent zu senken. Den durchgreifenden Erfolg führt die Statistik deutlich vor Augen. Heute gelten die Pocken durch die weltweite Impfung als ausgerottet. Eine Impfung wird nicht mehr durchgeführt.

Weniger bekannt ist die Variolation, der Vorläufer der Impfung mit Kuhpocken. Als die Araber im 11. Jahrhundert nach Indien vordrangen, lernten arabische Ärzte die brahmanische Impfung kennen, bei der von nur schwach an Pocken Erkrankten etwas Eiter aus den Pusteln in die aufgeritzte Haut des zu Impfenden eingerieben wurde. Die arabische Medizin war geprägt von Galens humoralpathologischen Vorstellungen über die Pocken als Reifungsprozess, und die Variolation wurde verboten.

Mitreisende Sklavenhändler, die den Serail mit Frauen für den Harem belieferten, nutzen das Verfahren dennoch. Heimlich impften sie die Frauen, damit ihre Gesichter nicht mehr durch Pockennarben entstellt und sie damit unverkäuflich werden konnten. Trotz des Verbots war in Konstantinopel Ende des 17. Jahrhunderts die Impfmethode gegen Pocken bekannt geworden. Reiche Familien ließen ihre Kinder von erfahrenen alten Frauen impfen. Der griechische Arzt Emanuel Timoni (1670-1718) verfasste 1713 einen Bericht über die Impfung. Zwei Jahre später beschrieb der Arzt Jacobo Pilarini (1659-1718) in einer lateinischen Schrift die Methode. Beide erhielten keine Resonanz auf ihre Beobachtungen.

Erst der englischen Schriftstellerin Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762) gelang es, sich bei dem englischen König Gehör zu verschaffen. Sie war die Frau des englischen Gesandten in Konstantinopel und lebte dort von 1716 bis 1718. Durch ihren Briefwechsel mit Freunden in England über das Leben, die Sitten und Gebräuche der Osmanen war sie berühmt geworden. Zur Vorbereitung auf das Land hatte sie türkisch gelernt und verkehrte gerne mit Frauen der höheren Gesellschaftskreise. Sie interessierte sich für alle Aspekte des muslimischen Lebens.

Da sie ihren Bruder durch die Pocken verloren hatte und sie selbst nach der Genesung durch Pockennarben entstellt war, hatte sie sich mit großem Interesse nach den Erfahrungen mit der Pockenimpfung erkundigt. Begeistert schrieb sie einer Freundin nach England: Die Pocken, die bei uns so verheerend und allgemein verbreitet, sind hier infolge der sogenannten Impfung vollkommen harmlos. Eine Masse alter Frauen vollzieht diese Operation gewerbsmäßig alljährlich im Herbst, im Monat September, wenn die große Hitze vorbei ist. Alsdann schickt einer zum anderen um sie zu fragen, ob vielleicht eine Familie Pocken haben möchte. Es bilden sich Gruppen und wenn dieselben, gewöhnlich 15 bis 16 an der Zahl, beisammen sind, kommt die alte Frau mit einer Nussschale, gefüllt mit Pockeneiter bester Gattung. Sie öffnet eine Ader mit einer langen Nadel, was nicht mehr Schmerz verursacht, als wenn man sich einfach ritzt, und bringt in die Wunde so viel Stoff, als auf dem Nadelkopf haftet. Kinder und junge Personen fühlen sich wohl und munter bis zum achten Tage. Dann werden sie vom Fieber ergriffen und hüten zwei, sehr selten drei Tage das Bett. (Stefan Winkle, Geißeln der Menschheit, S. 868).

Lady Montagu war so überzeugt davon, dass sie ihren fünfjährigen Sohn impfen ließ. Auf den nachfolgenden Reisen, die mehrfach durch Endemiegebiete führten, steckte er sich nie an. Als nach ihrer Rückkehr in London 1721 wieder eine Pockenepidemie ausgebrochen war, ließ sie ihre Tochter impfen. Sie konnte auch König Georg I. von England (1660-1727) von der Methode überzeugen. Nachdem die Impfung an Gefangenen und Kindern erfolgreich getestet worden war, ließ er seine Enkelkinder, die als Thronfolger in Frage kamen, ebenfalls impfen. Das Risiko der Impfung bestand in der Erzeugung einer schweren Pockenerkrankung. Verbesserungen der Impftechnik, der Vorbereitung der Impflinge und ihre vorrübergehende Isolierung führten zu einer geringeren Komplikationsrate. 1769 starben in England von 40.000 Geimpften nicht mehr als hundert Personen.

Literatur:

Stefan Winkle, Geißeln der Menschheit, Düsseldorf, Zürich, S. 831-901.

Walther Schönfeld, Frauen in der abendlichen Heilkunde vom klassischen Altertum bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1947.

Robert Koch Institut [zuletzt eingesehen am 2. Juni 2020]

Axel Helmstädter: Zur Geschichte der aktiven Immunisierung. Vorbeugen ist besser als Heilen. In: Pharmazie in unserer Zeit. Band 37, Nr. 1, 2008, S. 12–18, doi:10.1002/pauz.200700247 .

Autorin: Doris Fischer-Radizi