Hamburger Gängeviertel und Cholera

Hof im Gängeviertel | Fotograf unbekannt | um 1890
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Hof im Gängeviertel | Fotograf unbekannt | um 1890

„Zuhause bleiben“ ist aktuell angeordnet, um der Ausbreitung des COVID-19 Virus entgegenzuwirken. Diese Maßnahme zu beachten, fällt leichter, wenn ein großes Zuhause, etwa eine geräumige Wohnung oder ein Haus, zur Verfügung steht. Schwierig wird es für Menschen, die in beengten oder unsicheren Verhältnissen leben, in Massenunterkünften untergebracht oder sogar wohnungslos sind.

Besonders beengte Wohnverhältnisse zeigt ein historisches Foto aus dem sogenannten Gängeviertel in Hamburg. Wie zu erkennen ist, bestanden die Gängeviertel in der Alt- und Neustadt bis ins frühe 20. Jahrhundert vor allem aus dicht gedrängten Fachwerkhäusern, zwischen denen es kaum Luft und Licht gab. Seit dem Mittelalter lebten dort die ärmsten Bevölkerungsschichten Hamburgs. Die Bevölkerungszunahme im 19. Jahrhundert hatte sich in den Gängevierteln besonders bemerkbar gemacht, sodass die Bewohner/innen häufig zusammen mit Untermieter/innen und „Schlafgänger/innen“ – häufig Tagelöhner, die einzelne Betten anmieteten – in kleinen Wohnungen lebten. Außerdem fehlten dort ein Abwassersystem und eine geregelte Abfallentsorgung, was die Ausbreitung von Krankheiten begünstigte. Schon vor der Cholera-Epidemie 1892 häuften sich gerade bei Kindern Krankheiten wie Scharlach, Diphterie und Keuchhusten sowie Mangelkrankheiten wie Rachitis. Die Lungenkrankheit Tuberkulose – damals als „Schwindsucht“ oder „Motten“ bekannt – befiel auch Erwachsene und war 1880 die Ursache für die Hälfte der krankheitsbedingten Todesfälle der Altersgruppe zwischen 15 und 40 Jahren.

Fotos wie dieses aus unserer Sammlung müssen als historische Quelle analysiert werden: Zu fragen ist, wer sie gemacht hat und was darauf eventuell nicht zu sehen ist. Fotos der Gängeviertel wurden zumeist nicht von den Bewohner/innen selbst, sondern von Außenstehenden aufgenommen und zeigen somit eine Außen-, häufig eine bürgerliche Perspektive, auf das Viertel. Subjektive Erfahrungen, etwa von nachbarschaftlicher Hilfe, finden sich dort eher nicht. Ähnliches gilt für schriftliche Reiseberichte oder -führer.

Diese Außenperspektive spielt bei der Cholera in den Gängevierteln eine wichtige Rolle: Denn die Cholera-Epidemie 1892 traf die Gängeviertel und ihre Bewohner/innen besonders heftig. Fast die Hälfte der Straßen mit fünf Prozent Erkrankten befand sich laut dem „Hamburgischen Correspondent“ vom Dezember 1892 in der Hamburger Neustadt. 15 der 35 Straßen mit der höchsten Sterblichkeitsrate waren in den Gängen der Alt- und Neustadt zu finden. In früheren Jahren waren die meisten Cholera-Fälle auf der Brookhalbinsel zu finden gewesen, denn durch das umgebende Wasser war dort die Ansteckungsgefahr besonders hoch. Nachdem das dortige Wohnviertel zugunsten des Freihafens aufgegeben worden war, verschwand die Brookhalbinsel aus der Statistik. So rückte der Große Bäckergang, ein Teil der Gängeviertels in Hafennähe, mit einem Erkrankungsanteil von fast fünf Prozent und einer hohen Sterblichkeitsrate besonders in die öffentliche Aufmerksamkeit. Mit Ausnahme von Sozialmediziner/innen und Sozialdemokrat/innen interpretierten die meisten Zeitgenoss/innen die hohen Erkrankungszahlen jedoch nicht als Folge der sozialen Ungleichheit, sondern als Beweis der ungesunden Lebensweise der Unterschicht. So forderte die „Freie Presse“ im November 1892 den Abriss der Gängeviertel.

Nicht nur die Cholera ließ die Gängeviertel zum Dorn im Auge der Bessergestellten der Stadt werden: Offene Prostitution, Schmutz, Alkoholkonsum – also ein Mangel an kirchlicher und staatlicher Kontrolle – waren in nächster Nähe zum Hafen weithin sichtbar. So stellte etwa der Notar Heinrich Asher bereits in den 1860er Jahren Überlegungen zur Erneuerung der Gängeviertel an: Er empfahl den Totalabriss der Häuser, in denen zehntausende Menschen lebten – dies scheiterte nur an den Kosten, nicht an der sozialen Problematik. 1883 begann der Abriss des ersten Altstadt-Quartiers der Gängeviertel, der Kehrwieder-Wandrahm-Insel, auf der im Vorjahr noch 16.000 bis 18.000 Menschen gelebt hatten. Die Stadt Hamburg kümmerte sich nicht um die zukünftige Wohnperspektive der vom Abriss Betroffenen.

Nach der Cholera-Epidemie verstärkten sich die Abrissbemühungen der Stadt, nicht nur aus hygienischen Überlegungen, sondern auch aus Angst vor entstehenden sozialen und politischen Brennpunkten. Erheblich trug dazu der Streik der vornehmlich in den Gängevierteln lebenden Hafenarbeiter 1896/97 bei, der als längster Arbeitskampf im Deutschen Kaiserreich in die Geschichte einging. Auch die Modernisierung der Hamburger Innenstadt zu einer modernen Wohn- und Geschäftsstadt mit breiten Straßen führte dazu, dass die engen Gänge weichen sollten. So wurden die Gängeviertel in drei Bereiche aufgeteilt, deren Abriss in der Neustadt 1900/01 begann. Ab 1907 folgte der Abriss der Gängeviertel in der Altstadt, der bis in die 1930er Jahre andauerte. Die Bewohner/innen zogen größtenteils in andere Arbeiterviertel, etwa Hammerbrook.

Durch eine Gesetzesänderung wurde es einfacher, kleine Mietswohnungen zu bauen. Für eine Verbesserung der hygienischen Bedingungen war in den so entstehenden Mietskasernen jedoch nicht unbedingt gesorgt. Für die Bewohner/innen bedeutete der Umzug in die Vororte einen weiten und beschwerlichen Arbeitsweg – besonders für die Hafenarbeiter – sowie den Verlust nachbarschaftlicher Strukturen. Den Zusammenhang von Wohnen und Gesundheit erkannten Genossenschaften hingegen schon früh und errichteten Arbeiterwohnungen mit möglichst viel Luft und Licht. Diese reichten zwar nicht aus, um der großen Zahl an Arbeiter/innen Platz zu bieten und befanden sich zudem häufig in abgelegeneren Wohnvierteln wie Barmbek. In Folge der Cholera-Epidemie und der Novelle des Genossenschaftsgesetzes 1889 lässt sich jedoch ein deutlicher Zuwachs im genossenschaftlichen Bauen und Wohnen erkennen, der als Ausdruck von Selbsthilfeaktivitäten angesichts des Wohnungsmangels verstanden werden kann.

Literatur:

Aselmeyer, Norman: Cholera und Tod. Epidemieerfahrungen und Todesanschauungen in autobiografischen Texten von Arbeiterinnen und Arbeitern. Archiv für Sozialgeschichte 55 (2015), S. 77-106.

Burkhardt, Helge: Hamburger Wohnungsbaugenossenschaften. Ein Überblick, in: Heinrich-Kaufmann-Stiftung des Zentralverbands deutscher Konsumgenossenschaften e.V. (Hrsg.): Geschichte und Potenzial der Selbsthilfe: Die Wohnungsbaugenossenschaften. Beiträge zur 6. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte am 28. und 29. Oktober 2011 im Museum der Arbeit in Hamburg, Norderstedt 2012, S. 15-29.

Dahms, Geerd/Rednak, Dieter: Die Gängeviertel im Schatten des Michels. Die Hamburger Neustadt. Hamburg 2013.

Dahms, Geerd: Das Hamburger Gängeviertel. Unterwelt im Herzen der Großstadt. Berlin 2010.

Freiwald, Eckhard: Hamburgs Gängeviertel. Erfurt 2011.

Grüttner, Michael: Soziale Hygiene und Soziale Kontrolle. Die Sanierung der Hamburger Gängeviertel 1892-1936, in: Arno Herzig, Dieter Langewische und Arnold Sywottek (Hg.): Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, Hamburg 1983, S. 359-372.

Martens, Holger: Das Hamburger Genossenschaftsregister, in: Heinrich-Kaufmann-Stiftung des Zentralverbands deutscher Konsumgenossenschaften e.V. (Hrsg.): Geschichte und Potenzial der Selbsthilfe: Die Wohnungsbaugenossenschaften. Beiträge zur 6. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte am 28. und 29. Oktober 2011 im Museum der Arbeit in Hamburg, Norderstedt 2012, S. 7-14.

Autorin: Lisa Hellriegel