Redeflussstörungen (Stottern)

zurück

Was ist "Stottern"?

Stottern beginnt in aller Regel im Kindesalter, überwiegend in den Jahren vor der Einschulung. Viele Eigenschaften des Stotterns sind aber, wenn die Störung über viele Jahre bestehen bleibt, ganz anders als im Kindesalter. Deswegen wird über die Eigenschaften dieser Sprechstörung, die Untersuchung und Behandlung, getrennt einerseits für Kinder und jüngere Jugendliche und andererseits für Erwachsene und ältere Jugendliche berichtet.

Definition und Beschreibung

Der normale Bewegungsablauf der Sprechwerkzeuge ist bei einem Wort, einer Silbe oder einem Laut unterbrochen und der Sprecher reagiert darauf. Diese Reaktion kann auch schon in der Erwartung der Unterbrechung einsetzen (Definition nach Van Riper).

Auf der Ebene der Sprechmotorik gibt es:

  • Blockaden durch angestrengte Verschlüsse im Kehlkopf oder zwischen den Sprechwerkzeugen (Zunge, Gaumen, Lippen). Das subjektive Empfinden ist: "Ich bekomme manchmal das Wort nicht heraus."
  • Wiederholungen von Wortbruchstücken (Silben, Laute), wobei meist der angestrebte Vokal nicht richtig klingt und diese Symptome mit körperlicher Anstrengung hervorgebracht werden. Es ist eine Serie von kurzen Blockaden.
    Dehnungen können bei bestimmten Konsonanten entstehen, wenn die Kiefer- oder Zungenbewegung unter Anstrengung erstarrt.
  • Gleichzeitig ist die Sprechatmung gestört, d.h. die Ausatmung ist unterbrochen. In manchen Fällen wird der Atem hörbar ausgestoßen und der Stimmeinsatz gelingt nur verzögert (Atemvorschub) oder der Sprecher versucht, während des Sprechens einzuatmen.

Gestört ist in der Regel der Beginn eines Wortes oder einer Silbe. Charakteristisch ist, dass entweder der Stimmeinsatz mit dem Vokal am Anfang eines Wortes oder der Übergang vom Konsonanten zum folgenden Laut misslingt.

Schweregrad

Die Symptome können hinsichtlich ihrer Intensität und Häufigkeit sehr stark variieren. Ein stotternder Mensch kann in der Regel zeitweise sehr wenig und zu anderen Zeiten sehr viel (bzw. intensiver) stottern.

Wahrscheinlichkeit

Die Wahrscheinlichkeit des Stotterns ist in fast allen Fällen mit der Art der Sprechanforderungen bzw. -situationen verknüpft: Besonders quälende Stotter-Erlebnisse in der Vergangenheit (z.B. im Schulunterricht) bewirken, dass in ähnlichen Situationen (z.B. Gruppensituationen im Beruf) mit großer Wahrscheinlichkeit erneut sehr starke bzw. häufige Stottersymptome kommen. Die Fähigkeit, auch extrem schwer gestotterte Wörter unter subjektiv leichteren Sprechbedingungen normal aussprechen zu können, besteht beim Stottern regelmäßig.

Individuelles Muster.

Die Stottersymptomatik in ihrer Gesamtheit ist individuell so verschieden wie die menschliche Stimme. Es können nur wenige Sprachlaute oder viele betroffen sein. Die Art der Atemstörungen und die anatomischen Orte der Anstrengungen sind individuell geprägt, ebenso die Reaktionen auf die oben beschriebenen sprechmotorischen Symptome und die Bedeutsamkeit unterschiedlicher Sprechanforderungen. Man findet keine zwei Personen, deren Stottern identisch ist.

Definitionsgemäß gehören die Reaktionen des Sprechers auf seine motorischen Unterbrechungen als Sekundärsymptomatik mit zum Stottern. Sie zeigen sich in der Selbstwahrnehmung, den Gefühlen und Gedanken, in der Sprache und manchmal in Mitbewegungen und Grimassen.

  • Selbstwahrnehmung: Der Betroffene spürt die Anstrengungen und Atemnot und merkt, dass er diesem reflexartigen Geschehen hilflos ausgeliefert ist. Gesteigertes Herzklopfen, Schwitzen und Erröten werden empfunden, eng mit vielerlei Gefühlen, Gedanken und Vorstellungen verknüpft.
  • Charakteristisch sind die Gefühle der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts, wenn die Symptome einsetzen, Furcht vor dem Aussprechen bestimmter Wörter, dem Sprechen in bestimmten Situationen, Zeitnotgefühle, Schamgefühle, aber auch Frustration, Ärger, Wut oder Hass können erlebt werden. Die damit einhergehenden gewohnheitsmäßigen Gedanken sind häufig sehr krasse Abwertungen der eigenen Person. Die Gedanken und Vorstellungen beziehen sich häufig auf das Risiko, wegen des Stotterns von den Mitmenschen abgelehnt und abgewertet zu werden. Vielfach folgen gedankliche Selbstanweisungen zum Aufschieben oder gänzlichen Vermeiden stotterriskanter Wörter und Sprechsituationen.
  • Sprachliche Reaktionen sind Versuche, nicht zu stottern. Der Betroffene versucht, seine Schwierigkeiten zu verbergen, indem er riskante Wörter zeitlich aufschiebt (durch Umformulieren der Sätze und eingeschobene Bemerkungen) in der Hoffnung, dass "es etwas später flüssig geht", was aber nur manchmal zutrifft. Risikowörter werden oft durch sinnähnliche Wörter ersetzt. Auch vorgetäuschte Unwissenheit, angebliches Vergessen oder Nichtkönnen sind Ausdruck dieser Vermeidensstrategie. Natürlich ist das Aufschieben und Vermeiden nachteilig, aber oft die einzige Hilfe, solange keine wirksame Therapie zur Verfügung steht. Kurzfristig kann das psychische Leiden auf diese Weise vermindert werden. Langfristig wird dadurch aber das Stottern als Störung nicht nur nicht behoben, sondern das Leiden darunter noch vermehrt, und zwar durch die Folgen des Vermeidens. Zwischenmenschliche Beziehungen, berufliche und persönliche Kontakte können erheblich erschwert werden, wenn man sich den Regeln einer Vermeidensstrategie unterwirft.
  • Gewisse körperliche Reaktionen, nämlich Mitbewegungen (Hände, Arme, Kopf, Beine, Rumpf) oder Grimassen (Stirnrunzeln, Zukneifen oder Aufreißen der Augen, Verziehen des Mundes, Herausstrecken der Zunge) können zeitlich parallel mit der blockierten Aussprache der Wörter ablaufen. Diese abnormen Bewegungen sind als Reste von früheren Versuchen zu verstehen, die Blockierungen mit Krafteinsatz und spontanen Bewegungen irgendwie zu beenden. Diese zusätzlichen motorischen Reaktionen sind nicht die Regel, sie gehören nur bei einer Minderheit mit zur Stottersymptomatik.

Die beschriebenen motorischen und psychischen Bestandteile des Stotterns stehen untereinander in Wechselwirkungen. Weil so viele verschiedene körperliche und psychische Funktionen am Stottern beteiligt sind, ist die Störung in ihrer Gesamtheit sehr stabil und kann über Jahrzehnte bestehen. Andererseits liegt in der Vielfalt der beteiligten Funktionen auch eine therapeutische Chance: Wenn es nämlich gelingt, einzelne dieser Bestandteile positiv und nachhaltig (d.h. im Alltag umsetzbar) zu beeinflussen, dann pflanzt sich die Wirkung fort auf andere noch nicht direkt behandelte Funktionen. Sicherheitshalber werden aber trotzdem möglichst viele der beschriebenen Bestandteile direkt behandelt.

Diagnostik des Stotterns: Informationen zur Untersuchung

Die Untersuchung erfolgt durch einen Arzt sowie eine Logopädin und/oder eine Psychologin in getrennten Sitzungen nacheinander. In einzelnen Fällen wird zusätzlich das Gehör überprüft. In der Untersuchung soll folgendes herausgefunden werden:

  • Liegt eine organische Erkrankung im Bereich der Hör- und Sprechorgane vor?
  • Handelt es sich tatsächlich um chronisches Stottern oder um eine andere Sprechflüssigkeitsstörung?
  • Ist das Stottern mit anderen Sprech- oder Sprachstörungen kombiniert?
  • Beurteilung des Schweregrads der motorischen Bestandteile der Sprechstörung (Häufigkeit und Dauer der Blockierungen, Dehnungen und Wiederholungen) unter verschiedenen Sprechbedingungen
  • Beurteilung des Schweregrads der psychischen Beeinträchtigung durch diese Störung (z.B. Gefühle des Kontrollverlustes, der Zeitnot, der Furcht und/oder des verminderten Selbstwertes durch das Stottern und dazu passender destruktiver Gedanken und Fantasien)
  • Welche Reaktionen tragen zur Aufrechterhaltung der Störung bei?
  • Sind bereits einige therapeutisch nutzbare Gewohnheiten vorhanden?
  • Liegen andere Lebensprobleme zur Zeit neben den Sprechschwierigkeiten vor z.B. die Beeinträchtigung wichtiger Lebensziele oder des psychischen Allgemeinbefindens) und müssen diese in der Therapieplanung berücksichtigt werden?

Stottertherapie nach van Riper: Modifikation des Stotterns

Diese Methode wurde in den letzten Jahren in unserer Klinik mit einer Erfolgsquote von 47 - 60% längerfristig gebesserter Fälle durchgeführt. Diese und ähnliche Methoden werden auch von vielen TherapeutInnen in freien Praxen angeboten. Die Länge der Therapie variiert je nach der Symptomatik, Motivation und Mitarbeitsbereitschaft des Patienten zwischen 10 und 60 Stunden, in einigen Fällen mehr (bis zu 100 Stunden). Die Therapie wird sowohl als Einzel- wie auch als Gruppentherapie angeboten.

Mit der Therapie nach van Riper wird zunächst eine Duldung der Störung angestrebt, so dass der Stotternde aufhören kann, gegen die Störung anzukämpfen, denn gerade der Versuch, nicht zu stottern, führt zu vermehrter Anspannung beim Sprechen, zum Vermeiden von Sprechsituationen, zu Angst und Gefühlen von Ärger, Frustration oder Resignation bei Nicht-Gelingen der Versuche, flüssig zu sprechen. Erst wenn die Störung als etwas zur Person Gehörendes akzeptiert wird, soll aktiv an der Sprechmotorik gearbeitet werden, so dass eine Veränderung des impulsiven Stotterns zu einem aufmerksamen, flüssigen Stottern erfolgen kann. Die Veränderung der Sprechmotorik wird umso leichter fallen, je mehr es zuvor gelungen ist, von einem Gefühl des "es stottert mich" zu einem Gefühl des "ich stottere" zu kommen.

Die Therapie ist in vier Phasen eingeteilt:

1.) Identifikation

Am Beginn stehen Wahrnehmungsübungen zur Identifikation aller Bestandteile des Stotterns. Wenn nötig (bei sehr schweren Anstrengungsreaktionen) jetzt schon Entspannungs- und Veränderungstraining gegen auffällige Anstrengungsreaktionen.

2.) Desensibilisierung

Desensibilisierung gegen die Auslöser von Angst, Hilflosigkeit, Frustration, Scham, Zeitnot- und Minderwertigkeitsgefühlen. Auslöser für solche negativen Gefühle und Gedanken sind Sprechsituationen, Wörter und Sprachlaute, aber auch die Stottersymptome selbst. Die Desensibilisierung geschieht durch Training mit vielen verschiedenen verhaltenstherapeutischen Techniken der Konfrontation und des Umdenkens, die es möglich machen, das Stottern häufiger zuzulassen (statt es zu vermeiden) und dabei weniger Angst und andere negative Gefühle zu erleben. Im Ergebnis wird man selbstsicherer und das Stottern lässt auf indirektem Wege schon etwas nach.

3.) Modifikation des Stotterns

Angestrebt werden mehr Sprechflüssigkeit bei schwierigen Wörtern in schwierigen Situationen. Zuerst wird trainiert, die Aufmerksamkeit beim Sprechen zu verlagern: weg vom selbstkritischen Mithören hin zu den körperlichen Empfindungen beim Sprechen und Atmen.
Es folgen 3 Techniken für die Fähigkeiten zur Berichtigung der Sprechbewegungen:

  • direkt nach jedem gestotterten Wort
  • während der Schwierigkeiten mit einem Wort
  • unmittelbar vor dem Stottern, sobald es sich ankündigt

Durch diese Techniken gewinnt man direkte Kontrolle über das Stottern. Es verschwindet meistens nicht vollständig, aber es wird noch wesentlich seltener und unauffälliger als durch die Desensibilisierung.

4.) Stabilisierung

Dies geschieht durch diverse vertiefende Übungen zur Sicherung und Ergänzung des Erreichten, Wiederholung von einzelnen Techniken nach Bedarf. Weitere Bestandteile der Therapie, die nicht an Phasen gebunden sind:

  • Transfer: Unterstützung bei der täglichen Aufgabe der Übertragung aller Techniken in den Alltag und zwar ab der ersten Therapiephase
  • Psychologische Beratung (bzw. Psychotherapie) zur Lösung von Motivations- und anderen Problemen nach Bedarf
  • Zwischenuntersuchungen zur genaueren Einschätzung der Fortschritte
  • Kontrolluntersuchungen (eine bis zwei) längere Zeit nach Beendigung der Therapie.

Weiterführende Informationen

Weiterführende Informationen können über den Bundesverband Stotterer Selbsthilfe e.V. (http://www.bvss.de/) bezogen werden. Der Bundesverband führt Listen über Therapeuten, die Stottern behandeln.