„Ich war doch nie krank“
Verliebt, verloren – Happy End! Karin und Uwe Perteck finden auf Umwegen zueinander. Erst zehn Jahre, nachdem sie sich zum ersten Mal im Urlaub begegnen, führt sie das Schicksal wieder zusammen. Mit Anfang 60 wagen sie den Sprung in ein neues, gemeinsames Leben. Nichts scheint sie mehr aufhalten zu können. Dann kommt die Diagnose Krebs. Plötzlich steht alles auf dem Spiel.
Texte: Nicole Sénégas-Wulf, Fotos: Eva Hecht
„Bitte nicht googeln!" Karin hat die mahnende Stimme ihres Mannes noch im Ohr, als sie hektisch „Multiples Myelom“ in ihr Smartphone eingibt. So oder so ähnlich heiße die Krankheit, die heute Vormittag im UKE bei ihm festgestellt worden sei, hatte Uwe ihr am Telefon erklärt. Karin muss nicht lange suchen, um fündig zu werden: Im Internet heißt es, das Multiple Myelom ist selten und gleichzeitig die zweithäufigste Krebserkrankung von Knochen und Knochenmark – mit einer durchschnittlichen Überlebensdauer von zwei bis drei Jahren. „Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da las. Wir hatten doch erst vor Kurzem geheiratet, uns das Haus gekauft und noch so viele Pläne“, erzählt die 66-Jährige.
In den Wochen zuvor hatte ihr Mann häufiger über starke Rückenschmerzen geklagt, sich aber nichts weiter dabei gedacht. „Als Berufsfeuerwehrmann im Ruhestand habe ich regelmäßig Sport getrieben, bin in der Woche bis zu 30 Kilometern gelaufen, viel Rad gefahren und geschwommen. Dass es hier und da mal zwickte, war ich gewohnt“, erzählt Uwe. Vielleicht ein eingeklemmter Nerv oder eine Zerrung? Wahrscheinlich müsse er sich einfach noch mehr bewegen, redet er sich ein. Doch die Schmerzen verschlimmern sich. Irgendwie fühlen sie sich anders an – so, als würden sie ständig von einer zur anderen Körperstelle springen. Er sucht einen Orthopäden auf, erhält Physiotherapie sowie Cortisonspritzen. Doch nichts hilft. „Ich hatte das große Glück, dass mein Orthopäde der Ursache auf den Grund gehen wollte und eine MRT-Untersuchung anordnete“, sagt Uwe. Die Kernspin-Bilder bringen Gewissheit: In seinem unteren Rücken wird eine tumorartige Masse entdeckt, die zunehmend aufs Rückenmark drückt. Würde sie nicht rasch entfernt, drohe eine Querschnittslähmung, erklärten ihm die Ärzt:innen.
Sprachlos und überfordert
Uwe wird im UKE zunächst in die Wirbelsäulenchirurgie überwiesen, erhält aber weiterführende Untersuchungen. Eine Knochenmarkpunktion liefert schließlich die Diagnose: Hochrisiko-Myelom, eine aggressive Variante des Multiplen Myeloms. „Das Wort hatte ich noch nie gehört und verstand erstmal nur, dass es Krebs war. Wie ich mich fühlte? Sprachlos und ziemlich überfordert“, erinnert sich der heute 66-Jährige.
Sucht man im Internet nach „Hochrisiko-Myelom“, sind die Treffer noch vor wenigen Jahren alles andere als ermutigend. „Zwar haben sich die Überlebenschancen mit sogenanntem Standardrisiko-Myelom, das rund 80 Prozent der Patient:innen betrifft, dank neuer Therapieoptionen deutlich verbessert. Doch Patient:innen der Hochrisiko-Gruppe profitierten leider kaum von diesem Fortschritt“, erklärt Prof. Dr. Katja Weisel, Stellvertretende Direktorin des Universitären Cancer Centers Hamburg im UKE. Immer wieder erlebt die Ärztin, wie Hochrisiko-Patient:innen frühe Rückfälle erleiden, Resistenzen gegen Medikationen entwickeln und nur deutlich kürzer überleben. „Das wollte ich nicht länger hinnehmen“, sagt Prof. Weisel. „Zu wissen, dass es sich um eine besonders aggressive Variante handelt, sie aber nur genauso wie alle anderen zu behandeln, widerstrebte mir zusehends.“ Aus dieser persönlichen Überzeugung heraus entwickelt die Onkologin eine Idee: die vier zu diesem Zeitpunkt wirksamsten Medikamente gegen das Multiple Myelom zu einer intensivierten Therapie zu kombinieren und in der Erstbehandlung einzusetzen. 2017 entsteht daraus die heute durch das UKE geförderte CONCEPT-Studie, an der 20 Zentren in Deutschland teilnehmen.
Uwe ist Hamburger, lebt mit seiner Frau Karin im südöstlichen Umland und sitzt kurz nach seiner Diagnose in Prof. Weisels Büro. Ob er sich vorstellen könne, an einer Studie teilzunehmen? „Ich habe nicht lange gezögert und wusste: Das ist meine Chance.“ Karin ist etwas zögerlicher. „Ich war insgesamt ängstlicher“, gesteht sie. „Uwe schien von Anfang an so zuversichtlich und hatte großes Vertrauen in die Ärzt:innen und das Pflegepersonal im UKE. Das hat sich später auch auf mich übertragen.“ Bis beide das Wort „Krebs“ offen untereinander aussprechen können, vergehen dennoch einige Wochen. „Ich habe immer gesund gelebt, viel Sport getrieben, war nie krank. Da passte diese Krankheit einfach nichts ins Bild“, sagt Uwe.
„Es gibt immer einen Weg“
Doch er ist ein Anpacker, ein Macher und Optimist, schon von Berufswegen. 40 Jahre arbeitet er bei der Hamburger Feuerwehr, hat viel gesehen und dort geholfen, wo andere die Flucht ergreifen mussten. Unzählige Male löst er scheinbar ausweglose Situationen, löscht Brände und rettet Menschen nach Unfällen aus Autowracks. „In meinem Job habe ich gelernt, dass es immer einen Weg gibt. Auch wenn man anfangs noch nicht genau weiß, wo er liegt.“ Mit dieser Zuversicht beginnt er im Juli 2021 seine Krebsbehandlung mit der neuen medikamentösen Vierfachkombination. Außerdem erhält er eine Strahlentherapie, um die Tumormasse zurückzudrängen.
Nach sechs Monaten folgt die Hochdosischemotherapie sowie eine autologe Stammzelltransplantation. Dabei werden Stammzellen aus dem Blut entnommen und nach der hochdosierten Chemotherapie zurückgegeben, damit sich das Blutbild nach der intensiven Therapie rascher erholt. Anschließend geht es mit der Vierfachbehandlung weiter.
Aktiv bleiben
Und wie ergeht es ihm unter der Behandlung? „Ich war krank, ja. Doch viel leiden musste ich zum Glück nicht“, sagt Uwe. Am meisten macht ihm die sogenannte Fatigue zu schaffen – eine bleierne Müdigkeit und typische Folge der Medikamente. Doch anstatt ihr nachzugeben und sich hinzulegen, versucht er, aktiv zu bleiben, werkelt in seinem Garten und geht spazieren. „Natürlich hat manchmal auch der innere Schweinehund gewonnen“, lacht er. Doch die eigene innere Haltung – nicht nachzugeben und mitzuarbeiten – hält er im Kampf gegen die Krankheit für entscheidend. „Die Ärzt:innen im UKE haben mit der Therapie ihren Job gemacht. Mein Job war es, auf den Beinen zu bleiben und nicht nachzulassen.“ Selbst, als ihm die Haare ausfallen, reagiert Uwe pragmatisch und rasiert sie kurzerhand ab. „Ich wusste ja, sie wachsen wieder“, sagt er lächelnd. Als wichtige Unterstützung empfindet er die Betreuung im UKE. „In allen Bereichen – ob Ärzt:innen, Pflegende oder Servicepersonal – alle waren freundlich und nahmen sich Zeit für mich. So habe ich mich trotz der schwierigen Umstände immer wohl gefühlt und nie den Mut verloren.“
Sicht aufs Leben verändert
Mittlerweile hat der ehemalige Feuerwehrmann auch seine zweijährige Erhaltungstherapie überstanden. Ebenfalls eine Besonderheit der CONCEPT-Studie, die dazu beitragen soll, Rückfälle zu verhindern. Was sich seit seiner Krebserkrankung für ihn verändert hat? „Die Sicht auf das Leben. Dinge, die ich gern tun möchte, nicht aufzuschieben.“ Wie die Idee, sich für Kinder und Jugendliche in Schulen als Mediator bei Konflikten zu engagieren. „Es ist toll, die Kids darin zu unterstützen, eigenständig Lösungen zu finden.“ Uwe Perteck freut sich darauf, wieder mit seiner Frau zu reisen und größere Wanderungen zu unternehmen. Eine halbe Stunde am Stück zu joggen, steht auch auf seiner Wunschliste. Gleichzeitig weiß er, dass er es langsam angehen und seinem Körper Zeit geben muss. Doch wenn er eines während seiner Krankheit gelernt hat, dann ist es – Geduld zu haben.
Durchbruch beim Hochrisiko-Myelom
Lange galt die Prognose für Patient:innen mit einem Hochrisiko-Myelom als äußerst ungünstig. Dank einer neuen Kombinationstherapie stiegen die Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung auf 70 Prozent.
Das Multiple Myelom ist wenig bekannt und doch die zweithäufigste unter den bösartigen Knochenmarkerkrankungen. „Im Knochenmark, das sich über den ganzen Körper verteilt, werden unsere Blutzellen und Immunzellen gebildet“, erklärt Prof. Weisel. Entartet eine dieser Immunzellen, kann dies zu der bösartigen Erkrankung führen, die Knochen und Nieren angreift. Erste Anzeichen des Multiplen Myeloms sind oft unspezifisch. „Die Patient:innen klagen meist über Knochenschmerzen und sind durch ein geschwächtes Immunsystem anfälliger für Infekte“, schildert die Onkologin. Viele haben eine lange Odyssee hinter sich, bis der Grund für ihre Beschwerden gefunden wird. Eine sichere Diagnose liefert die Knochenmarkpunktion, anhand derer eingeordnet wird, ob es sich um ein Standard- oder Hochrisiko-Myelom handelt. „Etwa 20 Prozent der Patient:innen leiden unter der Hochrisiko-Variante, für die bislang keine geeignete Therapie bestand“, erklärt Prof. Weisel. Ihre Überlebensdauer nach Diagnose lag zwischen zwei bis drei Jahren. Um die Prognose für diese Patient:innengruppe zu verbessern, entwickelt sie 2017 ein neues Behandlungskonzept – eine Kombitherapie aus vier zugelassenen Wirkstoffen, die sie im Rahmen der CONCEPT-Studie überprüft.
Mit sehr positiven Ergebnissen: „Rund 90 Prozent sprachen auf das neue Therapieregime an, bei mehr als 60 Prozent konnten wir sogar eine komplette Remission erreichen“, freut sich Co-Studienleiterin Dr. Lisa Leypoldt. Die Anschlussstudie ist bereits in Planung. „Wir bleiben dran, um die Chancen für Patienten:innen mit Hochrisiko-Myelom weiter zu verbessern.“ Die medizinische Fachwelt hat das neue Therapieschema bereits überzeugt – es wurde vor Kurzem in die deutschen und amerikanischen Behandlungsleitlinien aufgenommen.