„Haben Mädchen mehr Angst als Jungs?“

Was macht das Coronavirus so einzigartig und welche Folgen hat die Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern? Diese und weitere Fragen klärt Kinderreporter Ilja Christopeit (9) mit Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer, der Leiterin der Studie und der Forschungsgruppe „Child Public Health“ der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des UKE.

Die Kamera blickt Ilja über die Schulter auf den Monitor. Vor Ilja liegt ein Zettel mit seinen Notizen. Dr. Ravens-Siberer ist auf dem Montior zu sehen, sie spricht
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Via Skype
führt Ilja Christopeit sein Interview mit Prof. Ravens-Sieberer

Ilja: Warum haben Sie Ihren Beruf gewählt?

Prof. Ravens-Sieberer: Das ist eine interessante Frage. Ich habe zuerst Psychologie studiert. In der Psychologie beschäftigt man sich damit, wie die Seele von Menschen funktioniert, was Menschen in ihrem Inneren erleben und warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Dann habe ich auch noch Epidemiologie studiert. Wir wollen herausfinden, wie es den Menschen überall auf der Welt geht. Genau diese Mischung aus Medizin und Psychologie hat mich interessiert. Und darüber machen wir jetzt Forschung.

Ilja: Und was ist das für eine Studie, die Sie durchführen?

Prof. Ravens-Sieberer: Das Coronavirus hat viel verändert. Viele Sachen konnte man nicht mehr machen: Zur Schule gehen, man musste viel zu Hause bleiben, Eltern konnten nicht so arbeiten wie sonst. Wir möchten herausfinden, ob diese Situation etwas bei den Kindern verändert hat. Wir fragen uns, ob Kinder sich häufiger Sorgen machen oder ob sie sich einsamer fühlen, ob sie Angst haben oder ob sie das gar nicht so sehr belastet. Manche Kinder machen sich so viele Sorgen, dass sie zum Beispiel nicht mehr schlafen können oder körperliche Beschwerden haben.

Ilja: Muss man gegen solche psychischen Folgen etwas tun oder sind manche Reaktionen auch normal?

Prof. Ravens-Sieberer: Die Sorgen, dass man sich zum Beispiel mit dem Coronavirus anstecken und krank werden könnte, sind ganz normal. Wer sich Sorgen macht, der passt auch mehr auf. Aber wenn diese Sorgen, Ängste und Traurigkeit nicht mehr weggehen, dann sollten Kinder mit ihren Eltern oder mit jemandem darüber sprechen und man sollte etwas dagegen tun.

Ilja: Was macht dieses Corona so einzigartig? Alle kümmern sich nun darum. Kommen dann andere Krankheiten nicht zu kurz? Das habe ich neulich in den Nachrichten gehört.

Prof. Ravens-Sieberer: Da hast Du völlig Recht. Im Moment hört man nur Corona und Corona in den Medien. Da kann man schnell den Eindruck kriegen, dass andere Krankheiten zu kurz kommen und nicht mehr wichtig sind. Aber natürlich gibt es auch noch andere Krankheiten, die weiterhin behandelt werden. Das Einzigartige beim Coronavirus ist, dass es so ganz neu ist. Man hat es erst vor ein paar Monaten entdeckt und man wusste nicht viel darüber. Jetzt findet man immer wieder neue Dinge über diese Krankheit heraus, wie sie den Körper verändert oder wie man sich anstecken kann. Das ist der Grund, warum so viel über Corona geredet wird. Langsam merken die Menschen aber, dass andere Dinge, die mit dem Körper passieren, genauso wichtig sind.

Ilja: Haben Mädchen mehr oder weniger Angst als Jungs?

Prof. Ravens-Sieberer (lacht): Das ist eine ziemlich gute Frage. Also erstmal hat Angst nichts damit zu tun, ob man ein Junge oder ein Mädchen ist. Angst ist ein ganz wichtiges Gefühl. Wenn Du zum Beispiel Angst vor einem Tier hast, das größer ist als Du selbst, oder vor dem Jungen aus der Nachbarklasse, der sich oft prügelt, dann ist das gut. Die Angst schützt uns davor, unüberlegte Dinge zu tun. Du streichelst das Tier nicht einfach so, sondern Du guckst erst mal, wie gefährlich es ist. Oder Du machst einen Bogen um diesen Jungen. Angst zu haben ist ganz normal. Manchmal hat man auch Angst, obwohl es keinen wirklichen Grund gibt. Man fürchtet sich zum Beispiel vor Monstern oder vor Gespenstern, weil man sie sich bildlich ausmalt. Wenn man Kinder fragt, dann sagen die Mädchen oft häufiger, dass sie Angst haben. Also vielleicht ist es so, dass man denkt, Mädchen können vielleicht besser zugeben, dass sie Angst haben.

Ilja: Haben kleine oder große Geschwister mehr Angst?

Prof. Ravens-Sieberer: Angst hat auch nichts mit dem Alter zu tun. Manchmal ist die kleine Schwester mutiger als der ältere Bruder. Man denkt immer, wenn man groß ist, dann darf man keine Angst mehr haben. Angst hat man, ganz egal, wie alt man ist. Wenn man älter wird, lernt man vielleicht, wie man seine Angst überwinden kann und wie man sich Hilfe holen kann.

Ilja: Also ich zaubere sehr gerne und ich habe Angst, dass meine Zaubertricks nicht klappen. Ist das eine Angst, mit der Sie sich auch auseinandersetzten?

Prof. Ravens-Sieberer: Erstmal kann ich das gut nachvollziehen. Du machst Zaubertricks, Du machst etwas, das Dir wichtig ist. Und Du übst und übst und wünschst Dir, dass die Tricks vor dem Publikum klappen. Ich würde erst mal sagen, Du hast eher Lampenfieber als Angst. Und ein bisschen Lampenfieber ist ganz gut, weil man dann konzentriert und wachsam ist. Das ist eher eine Garantie dafür, dass es klappt.

Ilja hält seine gelbe Kinder-Reporter Mütze in den Händen, er blick auf den Monitor vor sich
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„Ich vermisse meine Freunde“,
erzählt Ilja unserer Expertin im Interview.

Prof. Ravens-Sieberer: Darf ich Dich auch etwas fragen? Wie ist es für Dich, Deine Freunde nicht zu sehen und zu Hause zu lernen. Wie geht es Dir damit?

Ilja: Ich vermisse meine Freunde. Wenn ich, wie vor den Ferien, dienstags in die Schule gehe, sehe ich nur noch die Hälfte meiner Klasse. Da gibt’s natürlich Freunde, die ich dann seit neun Wochen nicht gesehen habe. Das ist natürlich schon anders.

Prof. Ravens-Sieberer: Das stimmt. Das ist natürlich ganz anders. Wir wollen mit unserer Studie herausfinden, ob es die Kinder auch traurig macht, wenn sie ihre Freunde nicht sehen. Oder ob sie es schrecklich finden, dass sie selber vielleicht den einen oder anderen ihrer Freunde verlieren. Hast Du das Gefühl, dass sich etwas verändert hat bei Dir und Deinen Freunden?

Ilja: Bei mir und meinem besten Freund hat sich eigentlich nichts verändert.

Prof. Ravens-Sieberer: Das spricht für eine gute Freundschaft. Weißt Du, was wir auch immer wissen wollen von den Kindern? Die Kinder sind jetzt ganz viel mit ihren Eltern zusammen. Manchmal ist es so, dass die Eltern nebenher arbeiten müssen und die Kinder Schularbeiten machen. Manchmal ist das toll und manchmal kann es auch sein, dass man sich ein bisschen mehr streitet oder sich nervt. War das bei Euch auch so?

Ilja: Mein kleiner Bruder und ich haben uns eigentlich nicht viel mehr und auch nicht weniger gestritten. Für mich war das normal. Und wenn meine Eltern zu Hause waren, fand ich das schön.

Aufgezeichnet von Petra Gilb-Julié, Fotos: Axel Kirchhof, Illustration: Alexandra Langenbek (Stand: 6. Juli 2020)