Trotz Lungentumor den Tagen mehr Leben geben
Laut Robert Koch-Institut gehört Lungenkrebs zu den Tumoren mit einer ungünstigen Prognose. Obwohl sie beruflich nie mit Gefahrenstoffen zu tun hat, nicht genetisch vorbelastet ist und nicht raucht, entdeckten Ärzt:innen 2021 bei Shadi Ant einen Lungentumor. Dank neuartiger Medikamente kann die 47-Jährige heute bewusster leben.
Text: Kathrin Thomsen | Fotos: Kathrin Thomsen und Riverside | Film: Riverside
„Mein Tag kannte eigentlich kein Ende“, sagt Shadi Ant über die Zeit vor ihrer Diagnose 2021. Nach ihrem Journalismus- und Soziologie-Studium kommt sie vor über 20 Jahren aus dem Iran nach Deutschland. Ihren ebenfalls aus dem Iran stammenden Ehemann Esfandiar lernt die heutige Bürokauffrau in der Türkei kennen, bekommt mit ihm die gemeinsamen Kinder Emelin und Armin, heute 23 und 20 Jahre alt. Morgens ist sie berufstätig, abends kümmert sie sich um Haushalt und Familie. „Wir haben unseren Lebensstandard in Norderstedt hart erarbeitet, uns kaum Freizeit gegönnt“, schildert Ant ihren Alltag. Immer stärker werdende Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Atemnot führt sie auf die einsetzenden Wechseljahre zurück, zu hausärztlichen Check-ups geht sie so gut wie nie. „Ein Fehler“, wie sie heute rückblickend weiß.
Diagnose Lungentumor Stadium Vier
Im Sommer vor vier Jahren – es war der 21. Juni, ein Datum, das sich tief in die Familienbiografie eingeschrieben hat – wird das Hämmern im Kopf unerträglich. „Auf einmal hingen meine Mundwinkel herunter – wir dachten an einen Schlaganfall“, berichtet Ant. Die hausärztliche Praxis der Familie verweist sie an die Zentrale Notaufnahme des UKE. Dort angekommen reagieren die Notärzt:innen schnell und beauftragen in der Radiologie eine Magnetresonanztomografie (MRT). Diese offenbart einen Tumor, der im Kopf großen Raum eingenommen hatte. Es folgen im Abstand weniger Tage eine Notoperation mit der Entfernung des Kopftumors, ein Aufenthalt auf der Intensivstation, die Verlegung auf die neurochirurgische Normalstation – und nach quälenden drei weiteren Wochen das eindeutige Ergebnis einer Gewebeuntersuchung: Ursächlich für die Beschwerden ist ein bösartiger Lungentumor mit Metastasen im Gehirn, in den Lymphknoten im Brustraum sowie in der Leber. Da sich der Tumor über die Blutbahn in andere Organe ausgebreitet hat, wird das fortgeschrittene Stadium 4 festgestellt. Die Diagnose ist ein „totaler Schock“, erinnert sich Ant.
Eine Welt bricht zusammen
„Bei der Visite konnte ich nichts sagen“, so Ant, „eine Pflegerin stand mir bei, verständigte umgehend meinen Mann, sorgte dafür, dass dieser trotz der damaligen COVID-19-Schutzmaßnahmen zu mir durfte.“ Mit ihm gemeinsam kauert sie in der Ecke des Zimmers auf dem Fußboden und weint. Ihre Kinder, so sagt sie, seien vollkommen erschüttert gewesen. Ihre Schwester, die in den USA lebt und zu der sie ein enges Verhältnis pflegt, packt sofort ihre Koffer und fliegt zu ihr, spendet wie die übrige Familie Trost am Patient:innenbett. „Obwohl ich erleichtert darüber war, dass ich nach der OP endlich weniger Kopfschmerzen hatte, hatten wir doch alle große Befürchtungen angesichts der schlimmen Diagnose.“
Erhalt von Lebensqualität steht im Vordergrund
Nach vierwöchiger Therapiepause im Anschluss an die Operation erhält Ant über einen Zeitraum von anderthalb Monaten einmal pro Woche eine Strahlentherapie ebenfalls im UKE: „An meinem Geburtstag im September saß ich danach zu Hause, das MRT vom Kopf sah mittlerweile ok aus – aber ich fragte mich, wie sollte es jetzt weitergehen mit dem Lungentumor?“
Gemeinsam mit dem Behandlungsteam und mit zusätzlicher Eigenrecherche habe sie sich über Ihren Gesundheitszustand und mögliche Therapien aufklären lassen, so Ant, „ich bin dankbar für die Organisation und Zusammenarbeit im UKE.“ Weil Shadi Ant nie geraucht hatte, war Lungenkrebs als Herd des Tumors zunächst unwahrscheinlicher, erst die feingewebliche Diagnostik hatte dessen eigentliche Ursache, die kombinierte Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und Computertomografie (CT) das gesamte Ausmaß der Metastasen gezeigt. „Eine weitere Untersuchung des nichtkleinzelligen Lungentumors auf genetische Veränderungen gab Aufschluss über eine so genannte Alk-Translokation“, erklärt Facharzt Dr. Benjamin Schmidt aus dem Zentrum für Onkologie. Genau an der genetischen Veränderung des Tumors setze die zielgerichtete Therapie an: Die eher seltene Unterform des Lungenkrebses sei mit Medikamenten so effizient behandelbar, dass es bei einem hohen Anteil von Patient:innen zu Remissionen käme, also dazu, dass der Krebs auf Röntgenaufnahmen nicht mehr erkennbar sei, so Schmidt. „Wenn wir Menschen mit einer metastasierten Krebserkrankung behandeln, die wir nicht heilen können, steht der Erhalt der Lebensqualität im Vordergrund.“
Kontrollen per MRT und CT
Auf den Rat ihres Arztes hin nimmt Shadi Ant seit Abschluss der Strahlentherapie täglich morgens und abends je vier Kapseln des Wirkstoffs Alectinib ein, ein Medikament, welches das Wachstum und die Ausbreitung der Lungenkrebszellen blockieren soll. Obwohl Nebenwirkungen wie unter anderem Ödeme, Magen-Darm-Probleme, veränderter Geschmackssinn oder Muskel- und Hautschmerzen beschrieben werden, verträgt Ant die Einnahme sehr gut. Laut Dr. Schmidt sei die positive Wirkung der Therapie sowohl klinisch als auch in der Bildgebung innerhalb weniger Monate nachweisbar. „Ich kann mittlerweile unter Begleitung besser Treppen steigen und sogar kleinere Strecken spazieren gehen“, freut sich auch Ant über den positiven Effekt. In der Onkologie wird sie nun regelmäßig vorstellig, zunächst im Rhythmus von zwei, später von sechs Wochen – alle drei Monate werden ein MRT und ein CT ihres Oberkörpers erstellt.
Von Krebs Betroffene ermutigen sich gegenseitig
Ihr Arzt bietet Shadi Ant an, psychoonkologische Begleitung in Anspruch zu nehmen – diese ist für sie jedoch keine Option. „Ich konnte mich einfach auf kein Gespräch mit einer fremden Person einlassen“, erklärt sie. Die Wende bringt der Kontakt zu Freundin Corinna, die zum wiederholten Male an Brustkrebs erkrankte. „Sie ist eine starke Frau, voller Lebensfreude, macht sich trotz Perücke jeden Tag zurecht, kleidet sich farbenfroh – ein Vorbild für mich“, erzählt sie; sie kann mit ihrer Hilfe endlich neuen Mut fassen, „meine Freundin hat mir gezeigt, wie wichtig es als Mensch mit Krebs ist, an seiner Seele zu arbeiten.“
Glücklich sein als Entscheidung
Shadi Ant konzentriert sich vollkommen auf ihre Gesundheit, legt eine zweijährige berufliche Pause ein: „Ich habe mich bewusst dazu entschieden, gegen den Tumor zu kämpfen. Natürlich ist der Tumor wie ein Schatten hinter mir – aber ich habe verstanden, dass ich mich nicht immer nach ihm umdrehen muss. Diese Erkenntnis hat mich zu einem neuen Menschen gemacht.“ Wenngleich Ant dem Leben nicht mehr Stunden geben kann, so kann sie den Tagen jedoch mehr Leben geben. Genau dieses Motto hat die Hobbymalerin verinnerlicht, nimmt sich mehr Zeit für sich selbst, für ihre persönlichen Interessen, umgibt sich stets mit frischen Blumen. „Materielle Dinge sind unwichtig geworden. Stattdessen plane ich persönliche Momente im Kalender ein: die Tasse Tee auf unserer Terrasse, Frühstück mit Freundinnen, Unternehmungen mit der Familie und Ausflüge in die Natur.“ Mittlerweile gehe es ihr gut, sie arbeite wieder vier Tage pro Woche, koche gern für ihre Familie, die immer an ihrer Seite sei.
Tumorerkrankung ist nicht mehr aktiv
„Die Tumorerkrankung ist nicht mehr aktiv“, so das überraschende Fazit von Dr. Schmidt nach vier Jahren Therapie, „die Medikamente sorgen dafür, dass es Frau Ant so gut geht, sie voll am Leben teilnehmen kann.“ Letztlich sei der Lungenkrebs eine chronische Erkrankung geworden, was vor zehn Jahren mit damaligen medizinischen Möglichkeiten nicht zu schaffen gewesen wäre. „Mit den modernen zielgerichteten Krebstherapien kann man mittlerweile Patient:innen stabil halten.“ Zugleich werde weiter geforscht, so dass neue Medikamente eingesetzt werden könnten, wenn alte nicht mehr wirksam seien – ein großer Hoffnungsschimmer für Patient:innen.
„Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass ich die Medikamente oder auch mögliche Alternativen weiterhin so gut vertrage und Gott mir viele Jahre schenkt, um meine Kinder weiter begleiten zu können“, resümiert Shadi Ant. Aber, so rät sie anderen, Betroffene sollten ihr Glück in die Hand nehmen, ärztliche Untersuchungstermine wahrnehmen, auf die Ernährung achten – und die Stunden eines Tages dankbar und intensiv genießen.