Evaluation der Wirksamkeit von Selbsthilfegruppenarbeit in der Deutschen Tinnitus-Liga e.V. (DTL)

1. Hintergrund
Die Deutsche Tinnitus-Liga e.V. (DTL) ist ein aus bürgerschaftlichem Engagement entwickelter Verein, der seit mehr als 25 Jahren Hilfe zur Selbsthilfe für die ca. 3,5 Millionen Tinnitus-, Hörsturz und Morbus-Menière-Betroffenen und ihre Angehörigen vermittelt und deren Interessen vertritt. Sie fördert Forschung und Lehre, um den Wissenstand bei Tinnitus und die Situation der Betroffenen in gesundheitlicher, rechtlicher und gesellschaftlicher Hinsicht zu verbessern.

Die Liga ist eine gut strukturierte und mitgliederstarke Selbsthilfe-Organisation von Betroffenen, die regelmäßig an den von ausgebildeten Selbsthilfegruppenleitern geführten Gruppen teilnehmen. In Deutschland sind in der DTL seit über 25 Jahren ca. 100 Gruppen vernetzt, in denen sich aus Überzeugung und mit hoher innerer Motivation zur Leidens-Bewältigung DTL-Mitglieder für Mitbetroffene - auch außerhalb der DTL - engagieren. Die Mitglieder, die nicht an Gruppentreffen teilnehmen, partizipieren am Wissen und Leben der Selbsthilfeorganisation über die auflagenstarke Mitgliederzeitschrift "Tinnitus-Forum" und überregionalen Veranstaltungen der DTL.

Vor drei Jahren begann die DTL eine Schulung ehrenamtlicher Gruppensprecher/innen, an der bis jetzt über 50 Teilnehmer/innen aus den Selbsthilfegruppen teilnahmen. In den kontinuierlich umgesetzten Schulungsmaßnahmen werden u.a. Wissen und Kompetenz in der Organisation und Moderation der Gruppentreffen vermittelt sowie gruppenbezogene Kommunikation und psychologische Techniken der Konflikt-Klärung durch praktische Übungen gelehrt.

Durch diese Qualifizierungs-Maßnahmen ist die Aktivität in den jeweiligen Selbsthilfe-Gruppen, wie auch die innere Zufriedenheit und Eigen-Aktivität der Mitglieder in den Gruppen mit qualifizierten Gruppensprechern deutlich gestiegen. Die Betroffenen- und Laien-Kompetenz wurde gefestigt und wird den Mitgliedern in den Gruppen weitergegeben. Um diese Qualitäts-Steigerung und Effizienz der Selbsthilfearbeit in der DTL zu belegen sowie die Investitionen in die Schulungen der DTL-Berater/innen zu begründen, startete die DTL im Mai 2012 ein Projekt zur Evaluation der tinnitusbezogenen Wirksamkeit der Selbsthilfe.

Trotz einiger Studien zur Bedeutung und Funktionsfähigkeit von Selbsthilfegruppen sowie der Motive von Betroffenen und Patienten, sich Selbsthilfegruppen anzuschließen, gibt es wenig bis kein Wissen darüber, ob und wie Selbsthilfegruppen sich auf Gesundheit und Lebensqualität - bezogen auf die jeweilige Einschränkung oder Erkrankung, die in Selbsthilfegruppen bearbeitet werden -, auswirken. Vermutlich ist es auch darin begründet, dass der Löwenanteil der Selbsthilfe von den Betroffenen ehrenamtlich und autonom aus eigener Tasche in Form von Mitgliedsbeiträgen und indirekten Kosten sowie der mit Selbsthilfearbeit aufgewendeten Zeit getragen wird. Die DTL will sich dieser Frage stellen, um mehr über die förderlichen und hinderlichen Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Selbsthilfegruppen-Arbeit sowie erfolgreiche und weniger erfolgreiche Maßnahmen in der Selbsthilfe zu erfahren.

2. Ziele und Hypothesen
Die Studie evaluiert den Nutzen und Mehrwert der Selbsthilfegruppenbeteiligung gegenüber der Nicht-Beteiligung an Selbsthilfegruppen sowie den Einfluss der Schulungen zum/zur DTL-Berater/in und der Schulung der Gruppensprecher in den Selbsthilfegruppen.
Hypothese: Den größten Nutzen und Mehrwert (Rückgang der Tinnitusbelastung, gemessen mit dem Mini-TF12 (Hiller, Goebel 2004); numerische Analogskalen des DTL-Fragebogens (Goebel, Hiller 2005 und 2006); besserer und sicherer Umgang mit Ohrgeräuschen; Nachhaltigkeit der Gruppenteilnahme) gibt es bei den

  • TeilnehmerInnen der Selbsthilfegruppen nach DTL-Richtlinien mit ausgebildeten SH- GruppenleiterInnen und/oder geschulten DTL-BeraterInnen, gefolgt von
  • TeilnehmerInnen der Selbsthilfegruppen ohne DTL-Richtlinien mit ungeschulten Gruppen- sprecherInnen, gefolgt von
  • den Mitgliedern der DTL ohne Selbsthilfegruppenbeteiligung.
3. Methodik

Stichprobe
TeilnehmerInnen sind erwachsene Mitglieder der DTL (ab 18 Jahre), die mindestens drei Monate unter einem chronischen Ohrgeräusch leiden. Das Leidensausmaß wird mittels eines evaluierten Messinstruments "Mini-TF12" (Hiller, Goebel 2004) sowie Numerischen Analogskalen (NAV) (Goebel et al. 2006) erfasst. Die Tinnitus-Anamnese und Ätiologie der Erkrankung einschließlich Geräuschempfindlichkeit, Schwerhörigkeit und Schwindel wird mittels des "DTL-Fragebogens" erfasst.Datenbasis sind die ca. 13.000 betroffenen Mitglieder der DTL. Von diesen sind nach Schätzung der DTL ca. 560 in einer der 55 DTL-Selbsthilfegruppen mit Akzeptanz der DTL-Richtlinien aktiv. Die DTL investiert in die fachliche Kompetenz ihrer Mitglieder, indem sie ehrenamtlich tätige Laienberater sowie TeilnehmerInnen der Selbsthilfegruppe zur Gruppensprecherin/zum Gruppensprecher schult. Etwa die Hälfte der Gruppensprecher/innen hat bereits eine solche Schulung durchlaufen. Daraus ergeben sich drei für die Fragestellung relevante Untergruppen:
  • ca. 560 DTL-Mitglieder, die in einer der 55 DTL-Selbsthilfegruppen mit Akzeptanz der DTL-Richtlinien aktiv sind, plus
  • ca. 240 Gruppenmitglieder in 33 SHG ohne Richtlinienanbindung sowie
  • ca. 12.200 DTL-Mitglieder, die nicht an Selbsthilfegruppen teilnehmen.
Die DTL-Mitglieder können über ihre Verbandsmitgliedschaft sehr gut erreicht werden. Durch den Fragebogenversand als Beilage zur Mitgliedszeitschrift oder gesondert postalisch wird im Herbst 2012 eine erschöpfende und dabei kostengünstige Ansprache gewährleistet. Auf Basis einer Vorläuferstudie aus dem Jahre 2004 (Goebel et al. 2004) kann von einem Rücklauf von ca. 5.000 (30%) ausgegangen werden. Da die Selbsthilfegruppenmitglieder die für diese Studie besonders relevante Zielgruppe darstellen, sollen diese über die Gruppensprecher/innen zusätzlich und gesondert motiviert werden. Dazu wird der DTL-Vorstand alle Gruppensprecher/innen um deren Unterstützung bitten, um insbesondere hier eine möglichst hohe Stichprobenausschöpfung zu erreichen.Das folgende Projektdesign verzichtet aus wirtschaftlichen Gründen auf eine Kontrollgruppe.

Ablauf
Explorativer Teil (Vorlauf) - Mai bis Oktober 2012:

Zur Identifikation der selbsthilfespezifischen Fragen zum Kompetenzgewinn und zur Wirksamkeit/Effektivität der Selbsthilfegruppen-Arbeit wurden zum einen teilnehmende Beobachtungen in den SHG-GruppenleiterInnen-Schulungen und DTL-BeraterInnen-Schulungen sowie zum anderen Experteninterviews mit/in folgenden Zielgruppen durchgeführt:
  • 5 geschulte DTL-Berater/innen, die auch eine SH-GruppenleiterInnenausbildung haben,
  • 5 geschulte SH-GruppenleiterInnen, die keine DTL-BeraterInnenausbildung aufweisen,
  • 5 ungeschulten SH-Gruppensprecher/innen,
  • 2 Trainer/innen der DTL-Berater und
  • 10 Selbsthilfegruppen-Mitglieder
Die teilnehmenden Beobachtungen und Interviews wurden durch Frau Silke Werner (Diplom-Soziologin) geführt (in Form eines telefonischen Interviews).

Fragebogenentwicklung - Oktober 2012 bis November 2012:

Die Ergebnisse der Interviews münden in standardisierte Fragebogen-Items zur Messung der Gruppen- und DTL-Beraterspezifischen Wirkungen bzgl. der Selbsthilfegruppenbeteiligung. Somit wird der Fragebogen aus drei Teilen bestehen:
a) einer mit der Befragung 2004 identischen Version (Goebel, Hiller 2005 und 2006), bestehend aus den 45 Items, die in dieser Studie schon einmal erhoben wurden, um einen Zeitverlauf abbilden zu können
b) Items, die sich auf die Mitgliedschaft in der DTL beziehen
c) Items nur für die Selbsthilfegruppen-Teilnehmer/innen, die sich auf Selbsthilfegruppenspezifische Aspekte beziehen

Quantitativ-empirischer Teil (Haupterhebungen):

Frühjahr 2013 und Herbst 2014

Im Frühjahr 2014 erhalten alle DTL-Mitglieder den Fragebogen mit der Mitgliederzeitschrift oder gesondert mit der Post (wird nach Prüfung der kostengünstigsten Lösung entschieden). Der erste Fragebogenteil ist in diesem Sinne eine Wiederholungsbefragung der Mitglieder-Befragung 2004 und ist somit für die über ihre Mitgliedsnummer Identifizierbaren ein Acht-Jahres-Follow-up. Von den 4.995 Beteiligten der Studie in 2004 sind auch heute noch viele nach wie vor Mitglied in der DTL. Die genaue Zahl muss noch ermittelt werden. Auch den zweiten Fragebogenteil (DTL-spezifische Fragen für alle mit besonderem Fokus auf Kompetenzgewinn und Lebensqualität) sollen alle Angeschriebenen beantworten, während der dritte Teil nur für die Selbsthilfegruppenmitglieder gedacht ist. Die DTL-Mitglieder werden gebeten, den Fragebogen in einem beigefügten Rücksendeumschlag unfrei an das IMSG zu schicken. Das IMSG fungiert hier als Pseudonymisierungsschnittstelle und übernimmt dann auch Dateneingabe und -auswertung.

Eine Wiederholungsbefragung soll im Abstand von 18 Monaten nach Ersterhebung stattfinden. Durch das Follow-up können Veränderungen über die Zeit evaluiert werden, was insbesondere für die Teilnehmerinnen der Selbsthilfegruppen von Relevanz ist, wenn hier auch neue Gruppenmitglieder resp. neue DTL-Berater/innen im zeitlichen Verlauf hinzu gekommen sind.

Dateneingabe und -Analyse:

Da der Fragebogen Freitext-Angaben enthalten wird, ist eine händische Dateneingabe gegenüber einer Scanner- und Computergestützten zu bevorzugen. Die Daten werden nach Erstellung einer entsprechenden Eingabemaske in SPSS Data EntryT eingegeben.

Die statistische Datenanalyse erfolgt mit dem SPSST. Neben der deskriptiven Datenanalyse werden die Eingangshypothesen mittels Gruppenvergleichen geprüft. Um mögliche Verzerrungen in den zu vergleichenden Gruppen zu kontrollieren, werden multivariate Verfahren eingesetzt. In entsprechender Weise werden nach Vorliegen der ersten Follow-up-Daten die Veränderungen über die Zeit in Abhängigkeit zur jeweiligen Gruppenzugehörigkeit analysiert.