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Künstliche Intelligenz im Bauchraum

Feine, millimetergenaue Schnitte: Computergesteuerte Roboter unterstützen Chirurg:innen längst erfolgreich bei Operationen am Enddarm. Jetzt kommt eine intelligente Software dazu. Sie soll aufpassen, dass Tumore sicher entfernt und gesundes Gewebe geschützt wird.

Text: Silvia Dahlkamp, Fotos: Axel Kirchhof

DIE VISION:OPERATION OHNE KOMPLIKATION

Wissen: Bei einer Darmkrebs-OP kommt es auf jeden Millimeter an

Forschen: Neue Software unterstützt da Vinci-Operationsroboter durch Warnsystem

Heilen: Krebs wird entfernt, gesundes Gewebe geschützt

Mit etwa 70.000 Neuerkrankungen im Jahr ist Darmkrebs die zweithäufigste Krebsart in Deutschland. Allerdings auch eine, die sich inzwischen gut behandeln lässt, wenn der Krebs rechtzeitig erkannt wird. „Dank moderner Technik steigen die Heilungschancen und die Lebenserwartung seit Jahren“, sagt Dr. Julia-Kristin Graß, Fachärztin für Viszeralchirurgie (lat. Viscera = „Eingeweide“) in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie des UKE. Dort gehört der Einsatz des da Vinci-Roboters mittlerweile zum Standard. Er übersetzt die Bewegungen der Chirurgin oder des Chirurgen, die an einem Bildschirmterminal sitzen und ein Skalpell am Arm des Roboters lenken. Mit sehr präzisen, feinen und zitterfreien Schnitten wird so das Tumorgewebe entfernt. Für die Patient:innen ist die Methode besonders schonend, weil sie minimalinvasiv, also bei geschlossener Bauchdecke durch winzige Öffnungen durchgeführt wird. Dennoch bleiben solche Operationen kompliziert, weil im Enddarm (Rektum) auf engstem Raum viele Gefäße und Nerven verlaufen. „Ein falscher Schnitt kann zu Verletzungen und etwa zu Inkontinenz führen. Meist geht es um Millimeter“, erklärt Graß.

System in Planung, das automatisch warnt

Wie lässt sich der Eingriff noch sicherer für die Patient:innen machen? Der Ansatz: mit künstlicher Intelligenz (KI), also Computerleistung, die OP-Videos auswertet und von ihnen lernen kann. In den kommenden drei Jahren will ein Ärzt:innenteam um Prof. Dr. Oliver Mann und Priv.-Doz. Dr. Nathaniel Melling ein System entwickeln, das den Operateur automatisch warnen soll, wenn sich das Skalpell zum Beispiel empfindlichen Darmschichten, Gefäßen und Nerven nähert. Dazu arbeiten die Ärzt:innen eng mit Wissenschaftler:innen der Technischen Hochschule Harburg zusammen, die die Programme schreiben.

Im Prinzip soll die intelligente Software wie ein Fahrassistent im Auto funktionieren, das auf der Straße beim Einparken oder Spurhalten hilft. Im Operationssaal hilft es etwa dabei, das Skalpell auf Distanz zu sensiblen Gewebeschichten zu halten. Oder es gibt Tipps: höher, tiefer, weiter nach rechts oder links. Dabei soll die Software nicht sprechen, sondern Pfeile oder Worte auf die 3D-Monitore im Operationssaal werfen, auf die der da Vinci-Roboter Live-Bilder aus dem Bauchraum überträgt.

Künstliches neuronales Netz schaffen

Wie aber bringt man eine Software dazu, selbstständig Gefahren zu erkennen und diese Fähigkeit immer weiter zu perfektionieren? Dazu „füttern“ Ärzt:innen und Informatiker:innen ein künstliches neuronales Netz mit insgesamt 150 Videos, die bereits bei Viszeral-Operationen aufgenommen wurden und bis zu acht Stunden und länger dauern. Dann beginnt die Sisyphusarbeit. Julia-Kristin Graß: „Wir markieren Strukturen, auf die wir achten möchten und machen gleichzeitig eine Qualitätsbewertung.“ Ist der Chirurg während des Eingriffs an der richtigen Stelle gewesen? Wo ist möglicherweise ein Fehler passiert? Was hätte man besser machen können? Die Software speichert alle Informationen und lernt anhand der Bilder alle Aspekte, die für mehr Sicherheit wichtig sind.

Doch damit nicht genug: Dieses Erfahrungswissen kombiniert die Software mit individuellen Krankendaten und erstellt vor jeder Operation ein Computermodell vom Darm der jeweiligen Patient:innen. Das Modell wird in Konturen über die Kamerabilder gelegt, die live aus dem Bauchraum kommen. So können die Chirurg:innen unmittelbar erkennen, wie nah sie gerade an sensiblem Gewebe arbeiten.

Überlegung: Qualitätsportal mit Ranking aufbauen

Die UKE-Mediziner:innen hoffen darauf, dass mit der neuen Technik nicht nur die OP-Risiken deutlich sinken, sondern sich künftig auch die Arbeit des OP-Teams für die Patient:innen besser darstellen lässt. Wurden bei der Operation am Enddarm alle Lymphknoten entfernt? Wie sind die Heilungschancen? Wie häufig kommt es zu Begleiterscheinungen? „Wer sich ein Auto kauft, studiert ja auch Tests oder informiert sich vorher bei Vergleichsportalen“, nennt Graß wieder ein Beispiel aus der Automobilindustrie. Nach einem ähnlichen Muster will das Chirurg:innen-Team des UKE ein Qualitätsportal mit einem Ranking aufbauen, das Kliniken nicht mehr nur an ihren Fallzahlen misst, sondern auch an der Menge der Eingriffe, die ohne Komplikationen verliefen. Graß: „So können Patient:innen künftig die Klinik in Deutschland wählen, die ihnen objektiv die größten Chancen bietet, schnell wieder gesund zu werden.“